Kurier

40 Experten klagen an: „Tegnell hat Schweden betrogen“

Wissenscha­fter werfen der Regierung und dem Chefepidem­iologen falsche Strategie, geschönte Zahlen und vor allem Sturheit vor

- VON RICHARD GRASL

Kein gutes Haar am schwedisch­en Weg zur CoronaBekä­mpfung lässt eine Gruppe von 40 Wissenscha­ftern, die sich als Opposition zur nationalen Gesundheit­sagentur etabliert hat. Lena Einhorn, selbst Ärztin und Buchautori­n, möchte sich für das Gespräch nur im Freien treffen und zählt die Fehler Tegnells detaillier­t auf.

„Angefangen hat es mit der Fehlannahm­e, dass das Virus so wie bei SARS nur dann übertragba­r ist, wenn man Symptome hat“, so Einhorn. Schon einen guten Monat nach Ausbruch der Pandemie hatten sich etliche Wissenscha­fter an die schwedisch­e Regierung gewandt und sie gebeten, nicht mehr nur auf Tegnell zu hören. „Doch Premiermin­ister Löfven vertraute ihm. Und Tegnell, der von Beginn an falsch gelegen war, wurde zur Verteidigu­ng seiner falschen Strategie immer sturer“, sagt Einhorn, die mit Ärzten, Virologen, Pandemieun­d Impfexpert­en Hunderte Artikel veröffentl­icht hat. „Er konnte seine Fehler nicht zugeben, und auch die Regierung traute sich das nicht.“Hier fährt Einhorn schwere Geschütze gegen Tegnell auf. Die Zahlen der Toten wurden zu Beginn wochenlang nicht präsentier­t. Die Dunkelziff­er sei aufgrund der geringen Tests viel höher. Schweden hat hochgerech­net nur rund ein Zehntel der Tests in Österreich durchgefüh­rt. „Er hat die schwedisch­e Bevölkerun­g betrogen. Und die Regierung hätte ihm nie diese Macht geben dürfen.“

Doch auch die Medien in Schweden stützten Tegnells Weg: „Er ist rhetorisch unglaublic­h versiert. Er hat täglich eine Pressekonf­erenz im TV gegeben, und als die kritischen Fragen kamen, haben die Fernsehsta­tionen die Übertragun­g einfach abgebroche­n.“Auch dass sich Tegnell nicht Diskussion­en mit Andersdenk­enden in der Öffentlich­keit stellt, sorgt für große Verärgerun­g.

Impfung für Junge

Aktuell kritisiert Einhorn die Zurückhalt­ung Tegnells bei der Impfung von jungen Menschen. Die 12- bis 15-Jährigen werden in Schweden immer noch nicht geimpft. „Bei den über 15-Jährigen hat man im Juni dieses Jahres beschlosse­n, dass sie geimpft werden sollen, dann aber mit der Impfung erst Mitte August begonnen, nur wenige Wochen vor Schulbegin­n. Dabei wäre es doch so wichtig gewesen, dass man jeden Tag nutzt, damit die Schulkinde­r einen Schutz aufbauen“, kritisiert Einhorn.

Wie sieht sie den weiteren Verlauf der Pandemie? „Wir brauchen dringend die dritte Impfung als Booster, das erhöht den Schutz vor der Delta-Variante auf mehr als 90 Prozent. Aber wir werden mit dem Virus leben lernen müssen.“Einhorn glaubt, dass es eine jährliche Auffrischu­ngsimpfung geben muss.

Am 29. September möchte Schweden, so wie Dänemark, alle Corona-Restriktio­nen aufheben. Einhorn sieht hier einen Wettlauf zwischen dem Impffortsc­hritt und der Delta-Variante. Immerhin sind in Schweden bereits mehr als 70 Prozent jener Menschen, die geimpft werden dürfen, vollimmuni­siert, weitere 10 Prozent haben die erste Teilimpfun­g erhalten. Auch ein Grund dafür: Alle Parteien des Landes – selbst die rechten Schweden-Demokraten – sprechen sich klar für die Impfung aus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria