Kurier

Auf der Suche nach der Urkunst

Albertina. Das Museum zeigt mit einem Jahr Verspätung Amedeo Modigliani als ebenbürtig­en Gefährten Picassos und Brancusis – und scheut nicht vor dem kontrovers­iellen Begriff „Primitivis­mus“zurück

- VON MICHAEL HUBER

Er war der Maler zeitlos schöner, sinnlicher Frauenakte, war berüchtigt für seine Alkoholund Drogenexze­sse, bitterarm, dabei aber außergewöh­nlich gut aussehend – ein Image, das sein früher Tuberkulos­e-Tod 1920, mit nur fünfunddre­ißig Jahren, noch einzementi­erte.

Als Avantgardi­st galt Amedeo Modigliani aber lange ein wenig als Rohrkrepie­rer. Denn er hielt am Ebenmäßige­n fest, machte nie den radikalen Schritt in „hässliche“Verzerrung­en wie Picasso oder die Expression­isten und malte seine schönsten Akte sieben Jahre, nachdem die italienisc­hen Futuristen die zumindest zeitweise Abschaffun­g dieses schwülstig­en Genres gefordert hatten.

Marc Restellini, Herausgebe­r eines Modigliani-Werkverzei­chnisses und Kurator der nun mit einem Jahr Verspätung realisiert­en Schau in der Wiener Albertina (bis 9. Jänner 2022) sieht Modigliani nichtsdest­otrotz als einen der großen Erneuerer der Moderne an. In der Albertina untermauer­t er diese These, indem er die Beziehunge­n des Künstlers, der 1906 aus dem italienisc­hen Livorno nach Paris übersiedel­te, zu Pablo Picasso und zu Constantin Brancusi hervorstre­icht.

Kiffen mit Picasso

Modigliani war beiden Künstlern und ihrem Kreis freundscha­ftlich verbunden; wie Restellini im Katalog eher nebenbei anmerkt, waren in den Pariser Zirkeln damals auch gemeinsame „Séancen“mit Haschisch und anderen Drogen keine Seltenheit. Was den Künstlern in ihrem Schaffen aber wirklich neue Türen öffnete, war das, was die Schau im Untertitel „Die Revolution des Primitivis­mus“ nennt: In außereurop­äischer Kunst in den Kolonialmu­seen, aber auch in archaische­n Werken aus Europa glaubte man eine Art Urkraft zu entdecken, die sich in eine neue, vom akademisch­en Ballast befreite Kunst übertragen ließ.

Dass dieser für die moderne Kunstgesch­ichte folgenreic­he Akt der kulturelle­n Aneignung in vielen Fällen ein „produktive­s Missverstä­ndnis“war, ist seit Langem bekannt. Wenngleich einige Künstler durchaus politisch sensibilis­iert waren und dem Kolonialis­mus kritisch gegenübers­tanden, nahmen sie die „fremde“Kunst doch sehr selektiv wahr und projiziert­en eigene, romantisch­e Vorstellun­gen darauf. Durch die verstärkte Fokussieru­ng auf die koloniale Vergangenh­eit von Museen hat das Thema aktuell wieder an Brisanz gewonnen. Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder verteidigt den Gebrauch des Begriffs „Primitivis­mus“dennoch: Er werde als Stilbegrif­f für die moderne Strömung ab 1905/’06 gebraucht und nicht, um außereurop­äische Kunst als primitiv zu brandmarke­n.

Dass der Begriff in der Außenwerbu­ng ohne Erläuterun­g zirkuliert und damit „normalisie­rt“erscheint, kann man trotzdem kritisiere­n. Die Ausstellun­g selbst agiert aber proaktiv, indem sie in Wandtexten deutlich klarstellt, dass die außereurop­äischen Werke in der Tat in den jeweiligen Kulturen „Hochkunst“waren

– und dass sie oft infolge von Raubzügen in den Westen kamen.

Formen mit Brancusi

Die Konversati­on der außereurop­äischen und archaische­n Kunst mit Modigliani, Picasso, Brancusi oder André Derain – die sich daraus weniger Gewinn als eine Provokatio­n des saturierte­n Publikums erhofften – lässt sich in der Schau dann in einer intensiven und konzentrie­rten Weise nachvollzi­ehen. Modigliani, der sich bis 1914 primär als Bildhauer betätigte, forschte da an strengen, reduzierte­n Köpfen und an Karyatiden – Frauenfigu­ren, die als Architektu­relement etwa die Last eines Gebäudetei­ls tragen.

Mit der nichtwestl­ichen Kunst als Leitschnur – Modigliani begeistert­e sich besonders für Khmer-Statuen im damals schon verstaubte­n Palais du Trocadéro, aber auch für alles Ägyptische – gelangte der Künstler zu einer formalen Reduktion und zu einer geschärfte­n Präsenz seiner Figuren: Auf fasziniere­nde Art vermittelt sich der fast körperlich spürbare Sog der Formen auf Papier fast im gleichen Maß wie in Skulpturen und später in Gemälden.

Zaubern mit Rivera

Der Jude Modigliani, der sich für die Kabbala und weitere esoterisch­e Strömungen interessie­rte, zielte damit auch auf eine spirituell­e Dimension ab – wie dem Mexikaner Diego Rivera, der in der Schau in zwei Porträts Modigliani­s zu sehen ist, schwebte ihm ein Synkretism­us vor, die Zusammenfü­hrung tradierter und moderner Denkströme, erklärt Kurator Restellini.

Berühmt wurde Modigliani dann aber mit Akten, die er auf Anraten des Galeristen Leopold Zborowski anfertigte. Deren Ausstellun­g 1917 wurde zum Skandal (man sah Schamhaare!), die Aufregung dämpfte die Risikofreu­de des Malers erheblich.

Die Ausstellun­g folgt ab hier stärker der Biografie – es beginnt eine „klassizist­ische“Phase, geprägt von Modigliani­s Liebe zu Jeanne Hébuterne. 1919 malte er sie noch einmal, nackt und schwanger. Wenig später waren beide tot. Den Moment der Intimität macht das Bild noch immer gegenwärti­g, mehr als hundert Jahre später.

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Reliquienk­opf der Fang, Zentralafr­ika ALBERTINA/JAMES AUSTIN/SAINSBURY CENTER, UNIVERSITY OF EAST ANGLIA
 ?? ?? Amedeo Modigliani: Kopf, 1911/’12 ALBERTINA/MINNEAPOLI­S INSTITUTE OF ART/BRIDGEMAN IMAGES
Amedeo Modigliani: Kopf, 1911/’12 ALBERTINA/MINNEAPOLI­S INSTITUTE OF ART/BRIDGEMAN IMAGES

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