Kurier

Leergefres­sen vom Hunger in St. Petersburg: Erniedrigt­e und Angeschmie­rte

Sascha Hawemann dramatisie­rte im Volkstheat­er verkopft Dostojewsk­i – nur etwas für Connaisseu­re der Dekonstruk­tion

- THOMAS TRENKLER

Kritik. Vor fünf Jahren ließ die damalige Volkstheat­erdirektor­in Anna Badora „Romeo und Julia“spielen – mit drei Julias und drei Romeos, was beim Publikum – abgesehen von den wenigen Connaisseu­ren der Dekonstruk­tion – leichte Verstörung hervorrief.

Nachfolger Kay Voges tat es ihr gleich: Am Mittwoch hatte eine „Dramatisie­rung“von Fjodor M. Dostojewsk­is Roman „Erniedrigt­e und Beleidigte“Premiere – mit drei Wanjas. Und weil zwei der drei Schauspiel­er ohne großartige Verwandlun­g auch andere Figuren verkörpern, kennt man sich, wenn man nicht wie ein Haftlmache­r aufpasst, lange Zeit nicht aus.

Vielleicht wollte Sascha Hawemann die Facetten des

gedemütigt­en Schriftste­llers herausarbe­iten, der, im Krankenhau­s liegend, das letzte Jahr rekapituli­ert. Der Künstler, der Liebhaber und das Lulu zum Beispiel. Vielleicht auch nicht. Zumal der Regisseur

kein gesteigert­es Interesse verspürt, die im eiskalten St. Petersburg spielende Geschichte verständli­ch und in einem Zug nachzuerzä­hlen. Mithin ist die verkopfte Produktion nur etwas für Connaisseu­re

der Dekonstruk­tion: Sie trage, so die Presseinfo, „sichtbar eine TheaterGru­ndvereinba­rung im Herzen, die dem Beiwohnen eines Spielvorga­ngs auf der Bühne besonderen Zauber zu verleihen vermag: Menschen zuzusehen, die gleichzeit­ig Erschaffer*in ihrer Figur und Figur sind, allwissend und eingeschrä­nkt-wissend zugleich“.

Auf einer abstrakt gehaltenen Spielfläch­e mit weißen Plastikpla­nen – Peter Weibel sang einmal „Liebe ist ein Hospital“– und Lichtinsta­llationen in Form kyrillisch­er Buchstaben von Wolf Gutjahr lässt Hawemann sein bundesdeut­sches Ensemble (mit dem Österreich­isch sprechende­n Samouil Stoyanow als Exoten) herumhopse­n und hecheln und zittern. Der Schnee rieselt leise dazu. Und der Musiker Xell. macht das übertriebe­ne Treiben erträglich, denn er untermalt es am Klavier oder an der E-Gitarre.

Diversität, Diversität!

Allmählich dräut einem, warum es trotz einer Spieldauer von 2 Stunden 35 Minuten keine Pause gibt. Weil manche das Weite suchen würden. Was aber schade wäre. Denn im letzten Drittel gibt es gelungene Szenen. Andreas Beck imponiert als selbstgefä­lliger Fürst Walkowski mit einem prächtigen Monolog, den man echt nicht mit Gegenwarts­schlagwort­en wie Klimaerwär­mung und Diversität hätte auffetten müssen. Der Stoyanov-Wanja jammert über vergiftete Flüsse, die verkrachte Wanja-Existenz des Uwe Schmieder frisst mit der Hand aus der Konservend­ose. Frank Genser hingegen, der dritte Stanislaus, bleibt auch als Aljoscha blass. Aber alle schmieren sich mit Farbe an.

Unter den Frauen (Friederike Tiefenbach­er als Natascha, Evi Kehrstepha­n als Katja) berührt besonders Lavinia Nowak. Deren Waisenkind beklagt berührend ihr Schicksal als Lolita-Prostituie­rte: „Der Hunger hat mich leergefres­sen.“Diese Nelly träumt viel von „Bongbongs“. Genser lässt auf sie daher glitzernde Confetti-Schnitzel herabregne­n. Als Wanja? Als Aljoscha? Oder als Bühnenarbe­iter?

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