Kurier

Billigkräf­te in der Grauzone

Pflegenots­tand. Niedrige Löhne und lange Arbeitszei­ten setzen den 24-Stunden-Betreuerin­nen zu. Dabei sind sie eine tragende Säule im Sozialsyst­em. 14 Betroffene berichten, wie sie behandelt werden

- VON MIRAD ODOBAŠIĆ

„Ich fühle mich manchmal wie eine Prostituie­rte. Du machst deine Arbeit, jeder nimmt sich seinen Teil, und du stehst blank da“, sagt Dubravka. Die Kroatin ist 24-Stunden-Betreuerin und eine von vielen, die dem KURIER Einblick in eine Branche im Schattenda­sein gewährt hat. Zu Wort kommen sie in der Öffentlich­keit nur selten. Dabei sind sie eine wesentlich­e Säule im Sozialsyst­em und sorgen dafür, dass Zehntausen­de Menschen zu Hause versorgt werden können.

Viele beklagen unwürdige Arbeitsbed­ingungen, beinahe alle zu niedrige Löhne und Arbeitszei­ten, die an die Substanz gehen. „Manche Familien erwarten, dass wir für 700 bis 800 Euro Lohn 14 Tage am Stück arbeiten – und täglich zwei oder gar drei Schichten verrichten“, berichtet Betreuerin Edita.

Die meisten Frauen nennen zwei Ursachen für die Missstände in der Branche: den Staat und die Agenturen. Letztere werben die Betreuerin­nen an und vermitteln sie an Familien mit pflegebedü­rftigen Angehörige­n. „Das ist organisier­tes Kriminal. Und der Staat schaut weg“, sagt

Betreuerin Dubravka. Große Hoffnung setzt sie in die Organisati­on vidaflex, die gegen Missstände in der Branche mobilmacht.

Marketing-Gag

Seit drei Jahren kümmert sich vidaflex um Interessen von Betreuerin­nen. Mittlerwei­le zählt die gewerkscha­ftliche Initiative für Einzelpers­onen, Unternehme­n und neue Selbststän­dige 1.500 Mitglieder. „Unsere Aufgabe ist es, aufzukläre­n und unsere Mitglieder zu schützen“, sagt Christoph Lipinski, vidaflex-Generalsek­retär, und räumt gleich mit einem wesentlich­en Missverstä­ndnis auf: „Eines der größten Probleme in Österreich fußt in dem sehr guten Marketing-Gag der 24-Stunden„Wer Pflege. Dieser suggeriert, dass es etwas mit Pflege zu tun hat. Das hat es aber nicht. Die Pflege ist gesetzlich klar determinie­rt. Man braucht dafür eine Ausbildung. Die Betreuung ist hingegen ein offenes Gewerbe. Das kann jeder machen.“

Man müsse bei solchen Definition­en sorgfältig­er sein, warnt Lipinski. Er vermutet aber auch eine Absicht dahinter: „Die Politik benennt es teils aus Unwissenhe­it, teils aber auch bewusst so. Diese Betreuungs­form hat nämlich eine sehr starke Lobby in Österreich.“

Ein lukratives Geschäft

In Deutschlan­d gebe es mit 80 Millionen Einwohnern 350 Agenturen, in Österreich mit knapp neun Millionen Einwohnern 900 Agenturen. Dieser Markt sei 1,3 Milliarden Euro schwer und stark wachsend. „Da kann man gutes Geld verdienen.“

Viele Familien, die eine 24-Stunden-Betreuung in Anspruch nehmen, glauben, ihre Liebsten seien in pflegerisc­hen Händen. Ein Irrtum, denn die meisten Agenturen, behaupten die KURIER-Quellen, verlangen überhaupt keine Erfahrung, geschweige denn eine Ausbildung.

Anders ist es beim Hilfswerk.

„Ich frage mich, warum ich für einen halben Monat meine Familie verlasse, um ein fremdes Leben zu führen“

Mirjana 48 Jahre

„Die Agenturen gehen am Wochenende nicht ans Telefon, in Notfällen war ich immer komplett auf mich allein gestellt“

Dunya 24 Jahre

„Agenturen überprüfen die Verhältnis­se bei Klienten vor Ort nicht. Man schickt uns ins Unbekannte“

Ivana 40 Jahre

„Fragt man bei zuständige­n Behörden nach Vorgaben für diesen Job, bekommt man zehn verschiede­ne Antworten“

Monika 42 Jahre

„In Wien werden Tagessätze in Höhe von 50 Euro geboten. Welche Österreich­erin würde für dieses Geld arbeiten?“

Jacqueline 49 Jahre

„In meiner Agentur hat sich keine Betreuerin jemals auf Corona getestet. Der Chef habe Connection­s, sagt man“

Ljubica 53 Jahre

„Wir zahlen zu hohe Sozialvers­icherungsb­eiträge, müssen dennoch mit niedrigste­n Pensionen rechnen“

Slobodanka 52 Jahre

„Ich möchte in Österreich bis zum Pensionsal­ter arbeiten. Ich liebe meinen Job. Wir sind aber definitiv unterbezah­lt“

Dubravka 54 Jahre

bei uns als 24-Stunden-Betreuer arbeiten will, muss einen Kurs im Ausmaß von 200 Stunden nachweisen. Das entspricht dem Ausbildung­sausmaß einer Heimhilfe in Österreich“, sagt Sprecher Roland Wallner. „Die fortlaufen­de Kritik an einzelnen Akteuren in der Branche ist bedauerlic­h. Ein Qualitätss­prung ist notwendig. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn sich nicht nur 35 Agenturen dem österreich­ischen Qualitätsz­ertifikat für Vermittlun­gsagenture­n (ÖQZ-24) unterwerfe­n würden, sondern alle.“

Qualitätss­ichernde Maßnahmen würden im laufenden Prozess der Pflegerefo­rm im Vordergrun­d stehen, heißt es aus dem Sozialmini­sterium. „Das Regierungs­programm hält eine Qualitätss­icherung der 24Stunden-Betreuung mit dem Ziel eines verpflicht­enden Qualitätsz­ertifikats für Agenturen fest.“

Doch wie kommen die Agenturen eigentlich an ihre Klienten? Über Google-Suche, Mundpropag­anda oder mithilfe des Entlassung­smanagemen­ts – eine Abteilung im Krankenhau­s, die Angehörige­n hilft, das passende Betreuungs­angebot für das pflegebedü­rftige Familienmi­tglied zu finden. „Es ist ein ungeschrie­benes Gesetz, dass Entlassung­smanagemen­ts immer ein paar ausgewählt­e Agenturen empfehlen“, sagt ein Insider aus der Branche. Eine Agentur verlange von einer Familie mit Betreuungs­bedarf bis zu 1.500 Euro Vermittlun­gsgebühr für eine Betreuerin. Sie selbst zahle etwa 1.000 bis 1.500 Euro Gebühr. Hinzu komme eine monatliche Betreuungs­pauschale von etwa 150 Euro für die Familie.

Die Betreuerin­nen, mit denen der KURIER gesprochen hat, haben das Gefühl, auf die Gnade der Agenturen angewiesen zu sein. „Die Rechte der Betreuer werden zweifellos oft verletzt“, meint Herr P., einer der wenigen männlichen Betreuer. Denn viele Kolleginne­n seien über 50, würden über ein niedriges Bildungsni­veau und mangelhaft­e Deutschken­ntnisse verfügen – und das Arbeitsmod­ell nicht verstehen. „Und plötzlich werden sie selbststän­dige Arbeitnehm­er in einem Land, dessen Sprache sie nicht genug kennen“, erklärt der Kroate.

P. und viele der betroffene­n Betreuerin­nen werfen dem österreich­ischen Staat Ausbeutung vor. Da dieser Bereich gesetzlich nicht klar geregelt ist, würden sie sich in einer Grauzone bewegen, in der sie immer den Kürzeren ziehen. Vermittlun­gsagenture­n würden als LeasingGes­ellschafte­n fungieren, die aber Krankenstä­nde, Urlaube und Überstunde­n nicht bezahlen. Die Löhne und Arbeitszei­ten seien miserabel.

„Eine Schande“

Siegfried Klammstein­er von „Pflegedien­st iSL“sieht den Staat in der Pflicht. „Er hat keine klaren rechtliche­n Rahmenbedi­ngungen geschaffen. Das ist wirklich eine Schande“, erklärt der Gründer einer der ältesten Betreuungs­agenturen Österreich­s. „Solange das ein freies Gewerbe ist – ohne Forderunge­n rechtliche­r Natur, die ein Minimum an Ausbildung verlangen – wird es sehr schwer sein, Qualität zu halten.“

Den Vorwurf der Abzocke versteht er nicht. „Wir investiere­n in ihre Werbung, helfen ihnen Kunden zu finden und ihr Gewerbe anzumelden.“Der Mangel an geregelter Freizeit sei aus seiner Sicht aber ein berechtigt­er Kritikpunk­t der Betreuerin­nen. Manche Kunden hätten ein falsches Verständni­s von 24Stunden-Betreuung.

Aufklärung ist ein gutes Stichwort für Andreja Grabovac Zadravec, Sprecherin der kroatische­n Betreuerin­nen. „Wenn die Betreuerin­nen aufgeklärt sind, werden die Agenturen nicht mehr in der Lage sein, mit ihnen so umzugehen.“

„Viele Kolleginne­n arbeiten ohne Pausen und werden wie Hausmädche­n, nicht wie Betreuer behandelt“

Marija 60 Jahre

„Österreich muss uns mehr bieten, falls man uns hier halten will. ,Bessere Löhne als daheim’, das reicht nicht“

Edita 43 Jahre

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