Kurier

Plötzlich Nummer eins im Land?

Für Olaf Scholz ging es im politische­n Leben oft auf und ab, trotzdem hat er immer weitergema­cht. Wer ist der Mann, der Kanzler werden könnte? Eine Spurensuch­e in Hamburg

- AUS HAMBURG SANDRA LUMETSBERG­ER

Knapp eine Stunde hat Annegret Raulfs von ihm erzählt, dann holt sie den Umschlag mit dem Klassenfot­o aus der Tasche: „Erkennen Sie ihn?“Olaf Scholz sitzt in der ersten Reihe, rotes Hemd, weiße Hose und dazu passende Socken und Schuhe. Vier Jahre hat sie ihn an der Grundschul­e im Hamburger Stadtteil Rahlstedt unterricht­et. Blutjung sei sie gewesen, daher ist ihre Erinnerung so intensiv, berichtet sie. Andere würden wohl damit prahlen, dass sie es waren, die dem heutigen Finanzmini­ster und Vizekanzle­r das Einmaleins beigebrach­t haben, doch die Frau lächelt bescheiden. Sie lässt wissen, dass er „ein ordentlich­er, fleißiger Schüler war, aber kein Streber“. Genauso wenig sei er „Rädelsführ­er“gewesen, oder einer, „der sich mit anderen gekloppt hätte“, eher „ruhig“und „abwartend“.

Dass er jetzt rund um das Café, indem sie sitzt, als Kanzler plakatiert ist, fand sie anfangs komisch. Sie war bei aller Sympathie leicht skeptisch, denn diese Position sei doch so entscheide­nd. „Ob du ihm das zutraust“, fragte sie sich. Das war, als die SPD noch unter „ferner liefen“lag.

In den Umfragen stand sie weit unter den 20 Prozent, die sie 2017 eingefahre­n hatte. Seit dieser Niederlage hatte die Partei mehrere Wechsel an der Spitze. 2019 bewarb sich Scholz um den Vorsitz. Doch ein Duo aus dem linken Flügel wurde von Jungsozial­isten und dem nordrhein-westfälisc­hen Landesverb­and erfolgreic­h als Antipoden zur Koalition beworben. Manche dachten, dass Scholz, der Regierungs­mitglied ist, hinschmeiß­en würde. Doch er blieb – und wurde Kanzlerkan­didat. Nun liegt die SPD mit ihm seit Wochen vor CDU/CSU. Wer hätte das gedacht?

Ja, es gibt Genossen, die haben früh an ihn geglaubt – und den offizielle­n Antrag zu seiner Kandidatur gestellt. Sie sitzen in einem Besprechun­gsraum in Rahlstedt, dem bevölkerun­gsreichste­n Stadtteil Hamburgs. Im Büro von Ekkehard Wysocki, Abgeordnet­er in der Bürgerscha­ft. Er war mit Olaf Scholz im Gymnasium, bei den Jungsozial­isten – und „politisch nicht auf demselben Flügel“. Scholz war auf dem linken, Wysocki auf dem rechten. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Rebellion, erzählt er. Viel hätten sie diskutiert, über Fragen der Enteignung und wo eine Gesellscha­ft hinwill. Demonstrie­rt wurde aber Seite an Seite, etwa gegen den NATO-Doppelbesc­hluss. Die gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzungen dieser Zeit zogen sich damals auch quer durch die SPD.

„Das ist heute vorbei“, wirft Günter Frank ein, der neben ihm sitzt und Ortsvorsit­zender war. „Scholz ist ein Pragmatike­r“, sagt er. Und einer, der wusste, wohin er will – diesen Eindruck hatte Axel Sellmer, der dritte Genosse im Büro. Als er dem 17-jährigen Scholz das Parteibuch überreicht­e, war ihm klar: „Das ist einer, der will alles, was möglich ist, mitmachen.“Scholz habe sich schnell überregion­al engagiert, so Sellmer. Dass er nach dem Abitur Rechtswiss­enschaft studierte – mit Schwerpunk­t Arbeitsrec­ht – komme nicht von ungefähr.

„Behütet“aufgewachs­en

Denn geprägt habe ihn vor allem das Umfeld und Aufwachsen in Großlohe, glauben die Genossen. Der Ortsteil liegt knapp zwei Kilometer von der Rahlstedte­r Fußgängerz­one entfernt. Auf dem Weg dorthin kommt man an Gründerzei­tvillen vorbei, genauso wie an Sozialwohn­ungen, die in den 50er-Jahren gebaut wurden. Viele der Bewohner bekamen damals finanziell­e Hilfe, heute ist es Hartz IV. Am Ende einer Straße taucht eine Ansammlung Backstein-Reihenhäus­er auf. Hier ist er mit seinen Brüdern Ingo und Jens aufgewachs­en – „behütet“und „bürgerlich“, wie seine Wegbegleit­er betonen. Der Vater arbeitete als Generalver­treter bei einer Textilfirm­a,

die Mutter war zu Hause. „Das war sicher kein Zuckerschl­ecken für solche Leute“, sagt Günter Frank mit Blick auf die Gegend. Aber Scholz habe so alle Schichten der Gesellscha­ft kennengele­rnt. „Das hat ihn sicher stark und selbstbewu­sst gemacht.“

Was seine politische Karriere betrifft, könnte ihm das geholfen haben. Oft musste er Niederlage­n einstecken: 2001 berief man ihn vor der Hamburg-Wahl zum Innensenat­or, Scholz setzte auf einen restriktiv­en Kurs, um die offene Flanke „Innere Sicherheit“zu decken. Doch er konnte das Ruder nicht mehr herumreiße­n. Die SPD verlor das Rathaus. Scholz ging nach Berlin und musste als Generalsek­retär Gerhard Schröders Hartz-IV-Reform verteidige­n – das tat er in einem monotonen Sprech, der ihm den Beinamen „Scholzomat“und wenig Sympathie einbrachte. 2003 wählten ihn die Delegierte­n am Parteitag mit nur 52,6 Prozent wieder. Er trat ab, blieb aber in der Hauptstadt und avancierte dann zum Arbeitsmin­ister.

2011, als die in Not geratene Hamburger SPD rief, war er zur Stelle. „Wer Führung bestellt, kriegt sie auch“, soll er gesagt haben. Die Genossen rückten zusammen, Scholz eroberte das Rathaus zurück.

Ein bisschen erinnert das an die aktuelle Situation. Der Hanseat hat als Kanzlerkan­didat eine am Boden liegende SPD übernommen und könnte sie wieder zur Nummer eins machen. Dass dieser Plan aufgehen kann, dürfte Scholz – anders als Außenstehe­nde – nie bezweifelt haben, hört man. Vielleicht war es seine nüchterne, kühle und zurückhalt­ende Art, die diese Vorstellun­g begrenzt hat.

„Sparsam in Emotionen“

Er ist „sparsam in seiner Emotion“, sagt Günter Frank. Ekkehard Wysocki erinnert sich ebenfalls, dass er „nie jemand war, wo man sagen würde, der rüttelt am Kanzleramt. Er war immer analytisch und kontrollie­rt.“Und hätte darauf geachtet, was sich durchsetze­n lasse und wo man eine Runde drehen müsse.

Weil ein strategisc­h-denkender Scholz für die SPD zwar von Vorteil ist, aber nicht ausreicht, hat man für die Wahl einen erfolgreic­hen Werber geholt: Raphael Brinkert, Ex-CDU-Mitglied, ist für die Kampagne verantwort­lich, die Scholz als Erfahrenen und Stabilität­sgarant präsentier­t. Wie auf den Plakaten, die im ganzen Land hängen. Auch dort, wo seine frühere Lehrerin Annegret Raulfs ihren Kaffee trinkt. Mittlerwei­le sagt sie, gefalle ihr der Gedanke von einem Kanzler Scholz gut. Und ja, es wäre komisch, wenn sie ihn jetzt nicht wählen würde.

„Scholz war nie jemand, von dem man sagen würde, der rüttelt am Kanzleramt. Er war immer sehr analytisch und kontrollie­rt“Ekkehard Wysocki kennt Scholz aus Juso-Zeiten

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