Mission Mumien-Mann
Jubiläum. Wie die Entdeckung von Frozen-Fritz-Superstar die Wissenschaft voran und Journalisten vor sich her trieb – eine persönliche Rückschau auf 30 Jahre Ötzi-Forschung
In jenen Tagen im September 1991 soll es ja hochfliegende Ambitionen gegeben haben. Angeblich waren Journalisten mit dem Auftrag aus der Chefredaktion ins hinterste Ötztal gereist, einen Hubschrauber zu mieten und direkt vom Ötzi-Fundort zu berichten. Dichter Nebel machte ihnen einen Strich durch die investigative Rechnung.
Schon davor hatten Stürme Sahara-Sand bis in die Alpen geweht. Unter der Sommersonne schmolzen die mit diesem Lösungsmittel bestäubten Gletscher dahin – das Eis gab viele Leichen frei. Ötzi war die sechste. Sechs Tage nach der Entdeckung begutachten die ersten Forscher die Feuchtmumie. Und datierten sie „auf mindestens viertausend Jahre“.
Die Autorin dieser Zeilen – damals blutige Anfängerin und kleine freie Mitarbeiterin einer Bundesländerzeitung – blieb wie die flugunfähigen Kollegen am Boden, um ehrfürchtig und mit großen Augen und Ohren die Berichterstattung in in- und ausländischen Medien zu verfolgen. Ja, Ötzis Entdeckung war eine Weltsensation.
Etwa 70 WissenschafterTeams aus zehn Ländern machten sich in der Folge an die teuerste Totenschau der Geschichte. Der Steckbrief stand bald fest (siehe Grafik). Später wurde klar: Ötzi ginge glatt als Südtiroler Urgestein durch. Setz ihm einen Hut mit Gamsbart auf – keiner würde sich wundern, wenn er einen Traktor durchs Dorf lenken würde.
Dauerbrenner
Fortan berichtete meine Zunft, in den ersten Jahren im Wochentakt. Ein paar Jahre später war auch ich mittendrin – Mumien und die dazu gehörige Forschung hatten mich ohnedies bereits als Kind fasziniert. Dank einer Freundschaft zum Ötziforscher Horst Seidler war ich zeitweise sogar vorne dran. Am 26. Juli 2001 dann mein erstes Eismann-Cover. „Forschungs-Krimi: Ötzi starb mit Pfeil im Rücken“titelte der KURIER damals.
In Wahrheit gibt es in der mittlerweile 30-jährigen Forschungsgeschichte rund um den Mann aus dem Eis nur zwei so richtig spektakuläre, schlagzeilenträchtige Momente: Den Tag seiner Entdeckung und eben jenen, als die Forscher in Ötzis Rücken eine Pfeilspitze entdeckten.
Sofort setzten die Spekulationen ein: Hatte sich am Similaun vor 5.000 Jahren ein Wilderer-Drama à la Anzengruber abgespielt? Wurde Ötzi gar von einem eifersüchtigen Nebenbuhler auf den Gletscher gejagt und hinterrücks erschossen? Oder war er Opfer eines Jagdunfalls?
Was lag näher, als zum 25. Jahrestag seiner Entdeckung eine „CSI Ötzi“ins Leben zu rufen: Die Archäologen zogen die Kriminalpolizei München hinzu, die sich wiederum der hippen Methoden des Profilings bediente. Die Kriminalisten verhörten die Ötzi-Forscher regelrecht: Welche Verletzungsmuster zeigen sich am Mann aus dem Eis? War die damalige Gesellschaft aggressiv, das Morden an der Tagesordnung oder ein Tabubruch?
Der renommierte deutschen Profiler Alexander Horn erzählte damals im
KURIER, dass die Verletzungen aussagekräftig seien. „Der Schuss mit dem Pfeil wurde aus größerer Distanz abgefeuert und traf ihn von hinten. Das deutet auf Heimtücke hin. Ötzi war unvorbereitet.“Weil er aber oben am Berg angekommen – 30 Minuten vor seinem Tod – seelenruhig ein opulentes Mahl eingenommen hatte, glaubte Horn keinesfalls, dass der Eismann auf der Flucht gewesen war. Der Täter sei ihm gefolgt, um ihn aus sicherer Entfernung mit einem Schuss zu umzubringen – „ein klassisches Tötungsdelikt mit einem persönlichen Motiv“.
Immer waren es Forscher, die mit kreativen Ansätzen den Wissenschaftskrimi vorantrieben.
Als es zum 20. Jahrestag gelang, Ötzis Genom zu entschlüsseln, nahm die Totenschau richtig Fahrt auf. Wer nun meint, die detaillierte Erforschung einer mehr als 5.000 Jahre alten Leiche sei Selbstzweck, irrt:
Durch die Entschlüsselung des Eismann-Genoms seien unzählige Türen aufgegangen, sagte einst sein Leibarzt Eduard Egarter Vigl. Operationsbesteck aus Titan wurde entwickelt, um Proben ohne Kontaminierung entnehmen zu können. Das ist heute Standard. Auch Verfahren zur 3-D-Rekonstruktion, die jetzt in der Medizin gang und gäbe sind, wurden zuerst für Ötzi entwickelt. Sogar, ob die Anlagen für heute weitverbreitete Zivilisationskrankheiten – Diabetes, Herzerkrankungen, Arteriosklerose – bereits in der Steinzeit gelegt waren, sollen Ötzis Gene verraten. Und die Strategien zu ihrer Bekämpfung sowieso.
Chancen
Unbestritten ist, dass österreichische Forscher erst durch diesen Jahrhundert-Fund die Chance erhielten, sich international zu beweisen.
Mittlerweile ist es ruhiger um Frozen Fritz geworden: 2019 eine Untersuchung zum Moos, das er dabei hatte, 2020 eine über die Bogensehne aus seinem Köcher, die älteste weltweit. Und der 30. Jahrestag? Unspektakulär: Das Ötzimuseum zeigt ab November eine Ausstellung zu steinzeitlicher Migration.