„Es war ein Fehler, Impfpflicht auszuschließen“
Der protestantisch-reformierte Theologe und Medizinethiker über Versäumnisse der Politik, den vergessenen Zusammenhang von Rechten und Pflichten und den Verlust an Gemeinsinn
Fehlende Klarheit und mangelnde Entschlossenheit der politisch Verantwortlichen rächen sich nun, meint der renommierte Ethiker.
KURIER: Die Pandemie hat die Polarisierung der Gesellschaft vorangetrieben. Derzeit sorgt besonders die Impffrage für Kontroversen. Inwieweit darf bzw. muss man zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheiden?
Ulrich Körtner: Ich glaube, man muss zunächst einen Schritt zurücktreten, damit man nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Worum geht es: um die Bekämpfung einer Pandemie, die wir – im Unterschied zur Pest oder den Pocken – vermutlich nur eindämmen werden können. Es geht darum, dass auftretende Fälle von Erkrankungen nicht das Gesundheitssystem in Stress bringen und dass auch unsere Wirtschaft nicht unter Druck gerät. Um dieses Ziel zu erreichen, sehe ich derzeit keine Alternative zu einer massenhaften Impfung der Bevölkerung, und zwar auch im globalen Maßstab. Die Pandemie ist ja auch für uns erst dann vorbei, wenn sie weltweit vorbei ist. Die Aussage des Kanzlers, für die Geimpften sei mit diesem Sommer dann die Pandemie vorbei, ist einfach Unfug.
Was ist mit dem Testen?
Dauerhaftes Testen ist mit dem Impfen nicht gleichzusetzen. Auch bei der Forschung nach Medikamenten zeichnet sich nicht ab, dass das in absehbarer Zeit eine Alternative sein könnte. Die Impfung ist also das Schlüsselelement einer kohärenten Pandemiestrategie. Wenn das aber so ist, und gleichzeitig ein nennenswerter Teil der Bevölkerung – aus welchen Gründen immer, die dürften ja durchaus unterschiedlich sein – die Impfung prinzipiell ablehnt, dann haben wir ein ernstes Problem. Als Ethiker würde ich sagen, das ist ein Indiz dafür, dass überkommene Vokabel wie Gemeinsinn oder Gemeinwohl aus der Mode gekommen sind. So gesehen ist die Pandemie auch ein Brennglas, unter dem deutlich wird: es dominiert in unserer Gesellschaft sehr stark ein konsumistisches, ja, egoistisches Freiheitsverständnis, welches Rechte einfordert, dabei aber übersieht, dass es diese nicht ohne Pflichten gibt. Wobei Pflichten ja für das Gemeinwesen da sind und es letztlich auch im wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, dazu etwas beizutragen. Aber dieser Gedanke ist offenbar fremd geworden. Auch die Politik traut sich höchstens halbherzig und auf Umwegen solches den Menschen nahezubringen.
Für die Politik stellt sich die Frage, wie viel Druck legitim ist, um als wünschenswert Erkanntes durchzusetzen. Sie haben sich beispielsweise für ein Ende der Gratistests ausgesprochen, sind aber gegen Selbstbehalte für Ungeimpfte …
Ich halte es für einen schweren strategischen Fehler der Politik, gesagt zu haben, dass man nie für irgendjemanden eine Impfpflicht einführen werde. Das habe ich schlicht für falsch gehalten. Gerade aus einer verantwortungsethischen Perspektive – nicht bloß aus einer machtpolitischen Überlegung heraus – sollte man sich prinzipiell alle Optionen offenhalten; natürlich mit Ausnahme solcher, die im Widerspruch zu Menschenwürde und rechten stehen. Aber Impfen zählt hier sicher nicht dazu. Indem man aber diese Option ausgeschlossen hat, hat man etwas aus der Hand gegeben, von dem man weiß, wir bräuchten es. Und man hat damit der Opposition, namentlich der FPÖ, eine Steilvorlage geliefert: Sie kann nun jeden Schritt in Richtung auch nur einer indirekten Impfpflicht als „Verrat“oder „Umfallen“zu brandmarken. Man ist also in eine selbstgestellte Falle hineingelaufen.
Hielten Sie demnach auch eine generelle Impfpflicht für ethisch vertretbar?
Theoretisch ja. Es geht in der Ethik immer um Verhältnismäßigkeit. Die gelinderen Mittel sind immer den härteren vorzuziehen. Alles, was auf Einsicht, Freiwilligkeit etc. baut, ist hundertmal besser als Zwangsmaßnahmen. Wenn ich aber sehe, dass ich mit dem Appell an Eigenverantwortung nichts erreiche, dann ist es durchaus vertretbar, mit Sanktionen zu arbeiten. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, dass zumindest Impfpflichten für bestimmte Berufsgruppen infrage kommen: Gesundheitsberufe, auch pädagogische Berufe, körpernahe Berufe, Polizei, Feuerwehr.
Und was sagen Sie darüber hinaus zu einer generellen Impfpflicht „durch die Hintertür“, wie es Kritiker nennen: dass also bestimmte Dinge nur für Geimpfte zugänglich sind?
Das halte ich sowohl ethisch wie juristisch für zulässig. Wobei, wie gesagt, man sich den Vorwurf des „durch die Hintertür“selbst eingehandelt hat, weil man von vornherein nicht von Impfpflichten sprechen wollte. Aber bestimmte Dinge an eine Impfung zu knüpfen, halte ich ethisch für dann berechtigt, wenn man es begründen kann nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Gerechtigkeit.
Was heißt hier Gerechtigkeit?
Dass die Lasten und der Nutzen von Maßnahmen einigermaßen gerecht verteilt sind. Damit komme ich zum Thema Testen: Wieso sollen die Geimpften weiterhin dafür bezahlen, dass Leute, die nicht aus gesundheitlichen Gründen ungeimpft sind, sich nicht impfen lassen wollen? Gerade wenn wir am solidarischen Gedanken unseres Gesundheitssystems festhalten wollen, dann kann der einzelne nicht fordern, dass auf seine Befindlichkeiten Rücksicht genommen wird und die anderen dafür zu bezahlen haben.