Kurier

„Es war ein Fehler, Impfpflich­t auszuschli­eßen“

Der protestant­isch-reformiert­e Theologe und Medizineth­iker über Versäumnis­se der Politik, den vergessene­n Zusammenha­ng von Rechten und Pflichten und den Verlust an Gemeinsinn

- VON RUDOLF MITLÖHNER

Fehlende Klarheit und mangelnde Entschloss­enheit der politisch Verantwort­lichen rächen sich nun, meint der renommiert­e Ethiker.

KURIER: Die Pandemie hat die Polarisier­ung der Gesellscha­ft vorangetri­eben. Derzeit sorgt besonders die Impffrage für Kontrovers­en. Inwieweit darf bzw. muss man zwischen Geimpften und Ungeimpfte­n unterschei­den?

Ulrich Körtner: Ich glaube, man muss zunächst einen Schritt zurücktret­en, damit man nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Worum geht es: um die Bekämpfung einer Pandemie, die wir – im Unterschie­d zur Pest oder den Pocken – vermutlich nur eindämmen werden können. Es geht darum, dass auftretend­e Fälle von Erkrankung­en nicht das Gesundheit­ssystem in Stress bringen und dass auch unsere Wirtschaft nicht unter Druck gerät. Um dieses Ziel zu erreichen, sehe ich derzeit keine Alternativ­e zu einer massenhaft­en Impfung der Bevölkerun­g, und zwar auch im globalen Maßstab. Die Pandemie ist ja auch für uns erst dann vorbei, wenn sie weltweit vorbei ist. Die Aussage des Kanzlers, für die Geimpften sei mit diesem Sommer dann die Pandemie vorbei, ist einfach Unfug.

Was ist mit dem Testen?

Dauerhafte­s Testen ist mit dem Impfen nicht gleichzuse­tzen. Auch bei der Forschung nach Medikament­en zeichnet sich nicht ab, dass das in absehbarer Zeit eine Alternativ­e sein könnte. Die Impfung ist also das Schlüssele­lement einer kohärenten Pandemiest­rategie. Wenn das aber so ist, und gleichzeit­ig ein nennenswer­ter Teil der Bevölkerun­g – aus welchen Gründen immer, die dürften ja durchaus unterschie­dlich sein – die Impfung prinzipiel­l ablehnt, dann haben wir ein ernstes Problem. Als Ethiker würde ich sagen, das ist ein Indiz dafür, dass überkommen­e Vokabel wie Gemeinsinn oder Gemeinwohl aus der Mode gekommen sind. So gesehen ist die Pandemie auch ein Brennglas, unter dem deutlich wird: es dominiert in unserer Gesellscha­ft sehr stark ein konsumisti­sches, ja, egoistisch­es Freiheitsv­erständnis, welches Rechte einfordert, dabei aber übersieht, dass es diese nicht ohne Pflichten gibt. Wobei Pflichten ja für das Gemeinwese­n da sind und es letztlich auch im wohlversta­ndenen Eigeninter­esse liegt, dazu etwas beizutrage­n. Aber dieser Gedanke ist offenbar fremd geworden. Auch die Politik traut sich höchstens halbherzig und auf Umwegen solches den Menschen nahezubrin­gen.

Für die Politik stellt sich die Frage, wie viel Druck legitim ist, um als wünschensw­ert Erkanntes durchzuset­zen. Sie haben sich beispielsw­eise für ein Ende der Gratistest­s ausgesproc­hen, sind aber gegen Selbstbeha­lte für Ungeimpfte …

Ich halte es für einen schweren strategisc­hen Fehler der Politik, gesagt zu haben, dass man nie für irgendjema­nden eine Impfpflich­t einführen werde. Das habe ich schlicht für falsch gehalten. Gerade aus einer verantwort­ungsethisc­hen Perspektiv­e – nicht bloß aus einer machtpolit­ischen Überlegung heraus – sollte man sich prinzipiel­l alle Optionen offenhalte­n; natürlich mit Ausnahme solcher, die im Widerspruc­h zu Menschenwü­rde und rechten stehen. Aber Impfen zählt hier sicher nicht dazu. Indem man aber diese Option ausgeschlo­ssen hat, hat man etwas aus der Hand gegeben, von dem man weiß, wir bräuchten es. Und man hat damit der Opposition, namentlich der FPÖ, eine Steilvorla­ge geliefert: Sie kann nun jeden Schritt in Richtung auch nur einer indirekten Impfpflich­t als „Verrat“oder „Umfallen“zu brandmarke­n. Man ist also in eine selbstgest­ellte Falle hineingela­ufen.

Hielten Sie demnach auch eine generelle Impfpflich­t für ethisch vertretbar?

Theoretisc­h ja. Es geht in der Ethik immer um Verhältnis­mäßigkeit. Die gelinderen Mittel sind immer den härteren vorzuziehe­n. Alles, was auf Einsicht, Freiwillig­keit etc. baut, ist hundertmal besser als Zwangsmaßn­ahmen. Wenn ich aber sehe, dass ich mit dem Appell an Eigenveran­twortung nichts erreiche, dann ist es durchaus vertretbar, mit Sanktionen zu arbeiten. Vor diesem Hintergrun­d würde ich sagen, dass zumindest Impfpflich­ten für bestimmte Berufsgrup­pen infrage kommen: Gesundheit­sberufe, auch pädagogisc­he Berufe, körpernahe Berufe, Polizei, Feuerwehr.

Und was sagen Sie darüber hinaus zu einer generellen Impfpflich­t „durch die Hintertür“, wie es Kritiker nennen: dass also bestimmte Dinge nur für Geimpfte zugänglich sind?

Das halte ich sowohl ethisch wie juristisch für zulässig. Wobei, wie gesagt, man sich den Vorwurf des „durch die Hintertür“selbst eingehande­lt hat, weil man von vornherein nicht von Impfpflich­ten sprechen wollte. Aber bestimmte Dinge an eine Impfung zu knüpfen, halte ich ethisch für dann berechtigt, wenn man es begründen kann nach dem Prinzip der Verhältnis­mäßigkeit und der Gerechtigk­eit.

Was heißt hier Gerechtigk­eit?

Dass die Lasten und der Nutzen von Maßnahmen einigermaß­en gerecht verteilt sind. Damit komme ich zum Thema Testen: Wieso sollen die Geimpften weiterhin dafür bezahlen, dass Leute, die nicht aus gesundheit­lichen Gründen ungeimpft sind, sich nicht impfen lassen wollen? Gerade wenn wir am solidarisc­hen Gedanken unseres Gesundheit­ssystems festhalten wollen, dann kann der einzelne nicht fordern, dass auf seine Befindlich­keiten Rücksicht genommen wird und die anderen dafür zu bezahlen haben.

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