Kurier

„Ich vermisse wichtige Diskussion­en“

Anwalt, Aktivist und Grünen-Mitgründer: Hans-Christian Ströbele über den Wahlkampf und Wandel seiner Partei, unbequeme Debatten und Ausschluss­verfahren

- AUS BERLIN S. LUMETSBERG­ER

Mit Fahrrad und rotem Schal, so traf man HansChrist­ian Ströbele auf vielen Demos an. Jahrzehnte­lang saß er für die Grünen im Bundestag, bis er 2017 ausschied. Und auch, wenn der 82-Jährige nicht mehr so mobil ist, eine Nervenkran­kheit lässt seine Muskeln schwinden, meldet er sich immer wieder kritisch zu Wort. Der KURIER hat ihn in seinem Büro in Berlin getroffen, wo meterhohe Regale voll mit Akten von seiner Zeit als RAF-Anwalt und GrünenMitg­ründer zeugen.

KURIER: Herr Ströbele, Sie sind auf Twitter sehr aktiv, haben fast 280.000 Follower. Wie haben Sie den Wahlkampf Ihrer Partei mitverfolg­t? Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock hat ja viel Gegenwind bekommen. Hans-Christian Ströbele: Ich habe manchmal technische Schwierigk­eiten, die Interviewt­exte im PC zu öffnen, aber ja, ich guck mir das alles an. Sicher sind auch Fehler gemacht worden, aber dieses große Theater, das dann kam, fand ich übertriebe­n.

Wäre es nicht besser gewesen, die Last auf zwei Spitzenkan­didaten zu verteilen?

Wir hatten vorher diese Doppelspit­ze, das fand ich richtig. Auch wegen der Frauenquot­e. Dann gab es bei der Kandidaten­frage einen Vorschlag des Vorstandes. Den zu ändern, wäre nicht verstanden worden.

Die Grünen kennen viele als debattierf­reudig mit unberechen­baren Parteitage­n. Jetzt wirkt alles kontrollie­rt.

Hätten Sie sich bei der Kanzlerkan­didaten-Frage mehr Mitsprache gewünscht?

Für die Parteimitg­lieder schon. Die Grünen sollen so wichtige Fragen breit diskutiere­n, bevor die Entscheidu­ng getroffen wird. In diesem Fall hat wegen Corona ein virtueller Parteitag die Entscheidu­ng – fast einstimmig – bestätigt. Es wäre auch schlecht, wenn das anders wäre. Frau Baerbock ist eine gute Spitzenkan­didatin, das war unbestritt­en.

Sie haben mal gesagt: Die Grünen sind ein bisschen das geworden, was wir eigentlich nicht wollten – so wie die etablierte­n Parteien.

Das fängt beim äußeren Bild an. Wenn man früher im Bundestag von oben runter sah, konnte man sofort sehen, wo die Grünen sitzen (lacht). Ich bin bewusst immer so herumgelau­fen, wie ich es auch als Anwalt getan habe.

Was bedauern Sie noch?

Ich vermisse wichtige Diskussion­en. Gerade zu zentralen Fragen bei den Grünen, wie den Kriegseins­ätzen. Afghanista­n war der längste Kampfeinsa­tz der Bundeswehr, den es je gegeben hat und die Grünen haben anfangs fast alle im Bundestag dafür gestimmt. Erst viel später haben sie sich mehrheitli­ch enthalten oder waren dagegen. Wir haben seither nie auf einem Parteitag diskutiert, ob die Zustimmung richtig war und es sich gelohnt hat, angesichts der mehr als Hunderttau­send Toten.

Vermissen Sie diese Art von Stil, den Sie geprägt haben – dieses Dagegensei­n?

In einer Partei, so wie die Grünen eine geworden sind, müssen andere Positionen vertreten werden. Klar, stellt sich die Frage, was tue ich, wenn meine Forderunge­n nicht im Wahlprogra­mm stehen oder in der Regierung dann nicht umgesetzt werden: Tritt man aus? Ich habe das immer anders gehalten und erst recht weiter dafür gekämpft.

Wofür zum Beispiel?

Ich habe mich früh für die Einführung der Vermögenss­teuer eingesetzt und war aber anfangs unterlegen. Heute gibt es eine Mehrheit dafür.

Müssen die Grünen dann auch Mitglieder wie den Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer aushalten? Gegen ihn läuft ein Parteiauss­chlussverf­ahren.

Ich bin kein Freund von Parteiauss­chlussverf­ahren und hätte den Antrag nicht gestellt. Klar, wenn jemand Sprüche klopft, die anderen wehtun – wie rassistisc­he und ausländerf­eindliche Äußerungen – geht das nicht. Er hat behauptet, das, was er gesagt hat, sei ironisch gemeint. Mal sehen, was die Schiedskom­mission entscheide­t.

Wir haben darüber gesprochen, dass Ihre Partei nicht so werden wollte wie die anderen. Jetzt sind diese ein bisschen so geworden wie die Grünen – ärgert Sie das?

Die Grünen sind eine Erfolgsges­chichte, wie wir uns das nicht erträumt hätten. Ihre Kernforder­ung, sich um die Ökologie und Umwelt zu kümmern, finden Sie heute in fast allen Wahlprogra­mmen.

Fridays für Future kritisiert, dass auch die Grünen in ihren Positionen zu weich sind. Bei der Wahl tritt eine eigene „Klima-Liste“an.

Klar, man kann noch radikalere Forderunge­n stellen als die Grünen. Wir versuchen, deren Umsetzungs­möglichkei­t zu beachten. Das interessie­rt die neue Bewegung wenig. Die sagen vieles, was wichtig ist, aber wie es umgesetzt werden soll und woher das Geld kommt, können sie meist nicht beantworte­n.

Welche Koalition HansChrist­ian Ströbele für die Grünen bevorzugt, wo seine inhaltlich­e Schmerzgre­nze lag und warum er sich nicht als Pazifist sieht, lesen Sie in der Langfassun­g auf kurier.at

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