Kurier

„Mutter-Kind-Pass bis 16. Lebensjahr verlängern“

Hans Jörg Schelling. Vorsorge ist ein entscheide­nder Faktor für die Gesundheit jedes Einzelnen. Sie entlastet zudem das gesamte System

- VON JOSEF ERTL

Hans Jörg Schelling ist Unternehme­r und Politiker. Der 67-Jährige war von 2014 bis 2017 Finanzmini­ster. Weiters bekleidete er die Funktionen des Obmanns der Allgemeine­n Unfallvers­icherungsa­nstalt (AUVA) und des Präsidente­n des Hauptverba­ndes der Sozialvers­icherungst­räger. Schelling ist nun ehrenamtli­cher Präsident des Gesundheit­sforums Praevenire, das das Gesundheit­ssystem von der Reparaturh­in zur Vorsorgeme­dizin reformiere­n will. Der Patient soll im Mittelpunk­t stehen.

KURIER: Praevenire will das Gesundheit­ssystem verbessern und effiziente­r gestalten. Wie soll das gehen?

Hans Jörg Schelling: Wir haben mit 500 Experten weltweit verschiede­nste Themen abgearbeit­et. Wir wollten wissen, was im Gesundheit­sbereich im Gange ist. Welche Krankheits­bilder werden eher verschwind­en, welche werden sich verstärken, wo gibt es Rezepte für chronische Erkrankung­en bis hin zur Frage, was kann die Digitalisi­erung im Gesundheit­ssystem leisten? Wie kann die Organisati­on verbessert werden? Also von der Videoordin­ation bis hin zum elektronis­chen Rezept,

bis hin zum Spezialist­en vor Ort. Wir hatten zum Beispiel Radiologen zu Gast, die darüber diskutiert haben, was die künstliche Intelligen­z in der Radiologie bringen kann.

Es geht wesentlich auch um das Thema Eigenveran­twortung. Was soll jeder

„Prävention muss im Kindergart­en beginnen. Die PädagogInn­en sind darin leider nicht ausgebilde­t“

Einzelne tun, damit er seinen Beitrag zu seiner eigenen Gesundheit leistet.

Es wird zwar immer wieder davon geredet, dass die Vorsorgeme­dizin einen wesentlich höheren Stellenwer­t bekommen soll. Es wurden aber kaum Maßnahmen zur Realisieru­ng gesetzt. Es gibt Appelle, aber die Realität sieht doch völlig anders aus.

Das Problem ist, dass man Prävention nicht verordnen kann. Man kann Tipps geben. Ein bisserl etwas ist schon passiert, wenn zum Beispiel Frauen ab 50 Jahren zur Mammografi­e eingeladen werden. Wir haben weiters in Vorarlberg einen Testlauf für die Prostatavo­rsorge installier­t.

Verhaltens­prävention muss schon im elementarp­ädagogisch­en Bereich beginnen, man muss sie vom Kindergart­en beginnend steuern. Vorsorge muss über die Schule und die Bildung gehen. Aber die Pädagoginn­en und Pädagogen sind dafür leider gar nicht ausgebilde­t.

Ein weiterer Punkt ist, dass unser Gesundheit­ssystem extrem krankenhau­slastig ist. Prävention passiert im Regelfall niederschw­ellig beim praktische­n Arzt oder in der Apotheke. Vorsorge ist ein ganz schwierige­r Weg, es ist nicht einfach, Motivation dafür zu erzeugen.

Man kann sie doch finanziell steuern. Oder auch durch Bestrafung.

Dieser Weg ist nicht gut. Denn in Österreich kann man nur über einen Bonus steuern, nicht aber über einen Malus.

Wäre nicht ein Malus für schwer Übergewich­tige oder für Raucher gerechtfer­tigt, denn sie verursache­n auch höhere Kosten?

Das geht nicht. Je geringer die Bildung ist, umso geringer ist das Einkommen. Man kann nicht jemanden bestrafen, weil er sich zum Beispiel kein Fitnesscen­ter leisten kann.

Die Sozialvers­icherung der Selbststän­digen belohnt positives Verhalten. Wer die Vorsorgeun­tersu

chungen absolviert, dessen Selbstbeha­lt wird um die Hälfte reduziert. Die Beamten sind einen anderen Weg gegangen, sie haben aufgrund ihrer Überschüss­e den Selbstbeha­lt auf zehn Prozent gesenkt, was ich nicht gut finde.

Beim Bonus- und Malussyste­m stoßen Ideologien aufeinande­r. Die linke Reichshälf­te sagt, man muss bei der Gesellscha­ft ansetzen. Ich aber sage, die Gesellscha­ft ist die Summe der Individuen. Wenn man die Gesellscha­ft ändern will, muss man beim Individuum ansetzen. Und das so früh wie möglich.

Indem man zum Beispiel in den Schulen die tägliche Bewegungss­tunde einführt. Auch hier wird schon jahrelang geredet, umgesetzt wird wenig. Man muss die Ausbildung

„Wir kennen doch alle unseren inneren Schweinehu­nd“

ändern. Wir haben einmal vom Hauptverba­nd der Sozialvers­icherungst­räger eine Volksschul­e im dritten Wiener Gemeindebe­zirk ausgezeich­net, die sich Ernährung und Bewegung auf ihre Fahnen geheftet hat. Sie sagten sich, eine Schulstund­e hat 50 Minuten, die restlichen zehn Minuten nutzen wir für Bewegung. Die Kinder durften über die Sessel hüpfen, sie haben mit Tennisbäll­en in der Klasse herumgesch­ossen. Die Schule hat die gesunde Jause propagiert. Einmal im Monat wurden den Eltern erklärt, was eine gesunde Jause ist.

Die Direktorin war dennoch nicht euphorisch. Ihre Begründung: Wir bemühen uns nun vier Jahre lang, das den Eltern und Kindern beizubring­en. Dann verteilen sich die Kinder

auf zehn Schulen und alles ist weg.

Welche Maßnahmen könnte man setzen?

Man könnte zum Beispiel den Mutter-Kind-Pass bis zum 16. Lebensjahr verlängern. Das kostet nicht viel und man hätte damit ein Steuerungs­element.

Wenn man Prävention betreibt, muss man zwei Dinge tun. Erstens: Man muss sie in die Haushalte bringen und sie haushaltsf­ähig machen. Wir haben bei der AUVA einmal eine Aktion gegen Sturz und Fall gemacht, was hauptsächl­ich ältere Personen betrifft. Wir haben ihnen Übungen gezeigt, die man während des Zähneputze­ns machen kann.

Zweitens: Man muss die Prävention dort unterstütz­en, wo die Menschen täglich sind: im Kindergart­en, in der Schule, am Arbeitspla­tz. Es ist ein harter Weg, bis wir in der Vorsorge zum Punkt kommen, dass sie wirklich wirkt. Wir wollen alle älter werden. Und gesund älter werden, heißt, dass man etwas tun muss. Wir kennen doch alle unseren inneren Schweinehu­nd. Wenn wir keine Beschwerde­n haben, machen wir die notwendige­n Übungen nicht.

Was kann bei der Vorsorge noch helfen?

Man sollte den niederschw­elligen Bereich besser organisier­en. Es gibt am Land zu wenig Ärzte. Einer unserer vielen Vorschläge war, dass man diesen Ärzten ein Einkommen garantiert, unabhängig von der Patientena­nzahl. Früher haben die Gemeinden ihren Ärzten eine Wohnung oder ein Haus zur Verfügung gestellt. Die Ärzte hatten somit ein geringfügi­ges wirtschaft­liches Risiko. Wenn wir den Patienten in den Mittelpunk­t stellen, werden wir wieder mehr Ärzte auf das Land bringen müssen.

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