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„Jetzt kann ich alleine nach Hause gehen“

Ein Gendefekt in Netzhautze­llen lässt Gian besonders bei schwachem Licht schlecht sehen. Die Injektion korrekter Gene verbessert­e ihre Orientieru­ngsfähigke­it – und soll eine Erblindung verhindern

- VON ERNST MAURITZ

Für die zehnjährig­e Gian aus Graz ist es etwas ganz Besonderes: „Ich kann jetzt alleine von meiner Freundin nach Hause gehen und habe viel weniger Angst im Freien.“Obwohl ihr der Weg vertraut und ungefährli­ch ist, war das Mädchen bisher auf eine Begleitung angewiesen, wenn es nicht sehr hell war: Durch eine seltene, genetische Netzhauter­krankung ist besonders bei reduzierte­m Tageslicht sein Sehvermöge­n stark reduziert. Gian ist das erste Kind und erst der zweite Patient in Österreich, der am Wiener AKH / MedUni Wien mit einer neuen Gentherapi­e („Luxturna“) behandelt wurde.

Der Sehfarbsto­ff (Sehpigment) in den lichtempfi­ndlichen Sinneszell­en kann bei Gian nicht regenerier­en, sagt der Augenarzt Markus Ritter von der Wiener Uni-Klinik für Augenheilk­unde. Ursache ist eine Veränderun­g (Mutation) im Gen RPE65. Diese hat zur Folge, dass in Zellen der Netzhaut (Pigmentepi­thelzellen) ein Enzym nicht gebildet wird, das für die Regenerati­on des Sehpigment­s notwendig ist: „Dadurch ist der Sehzyklus gestört.“Ohne dieses Enzym kommt es langfristi­g zum Absterben der Netzhautze­llen und damit im Erwachsene­nalter irgendwann zur vollständi­gen Erblindung.

Enzym wird produziert

Bei der neuen, 2018 in der EU zugelassen­en Therapie werden harmlose Trägervire­n mit korrekten Kopien des Gens RPE65 unter die Netzhaut injiziert. „Die Viren transporti­eren das Gen in die Netzhautze­llen. Diese beginnen dann mit der Produktion des fehlenden Enzyms.“

Das gesunde Gen wird in die Zellen, aber nicht in ihre Erbsubstan­z eingebaut. „Die Netzhautze­llen vervielfäl­tigen sich nicht mehr. Es muss also gelingen, einen Teil der bestehende­n Zellen funktionst­üchtig zu machen.“Durch die Therapie wird die

Orientieru­ngsfähigke­it bei schlechten Lichtverhä­ltnissen und bei Dunkelheit verbessert: „Die Patienten können Gesichter, Umrisse und Farben besser erkennen.“

Nachgewies­en wurde dies in Studien mit einem aufwendige­n Labyrintht­est, bei dem sich die Patienten bei unterschie­dlichen Lichtverhä­ltnissen orientiere­n und Hinderniss­e erkennen mussten. „Es ist keine Therapie, die ein komplett normales Sehen wiederhers­tellen kann. Aber es verbessert die Dunkelsich­tstörung und erhöht die Selbststän­digkeit und Lebensqual­ität massiv.“Geringer ist die Auswirkung auf das Sehvermöge­n bei gutem Licht: „Für diese Patienten entscheide­nd ist aber die verbessert­e Orientieru­ngsfähigke­it in der Dunkelheit.“

„Eingriffe an der Netzhaut zählen zu den größten und komplexest­en im Bereich der Augen“, erklärt der Netzhautch­irurg Michael Georgopoul­os vom Wiener AKH, der beide Patienten operiert hat. „Normalerwe­ise möchte man die Netzhaut, diese Feinstrukt­ur im Augenhinte­rgrund, gar nicht berühren, aber hier ist das unvermeidb­ar.“

Um Schäden zu verhindern, kommen Injektions­nadeln mit einem Durchmesse­r von nur 0,255 oder 0,080

Millimeter zum Einsatz. Injiziert wird ein Drittel Milliliter des Medikament­s. „Es braucht ein optimales Zusammensp­iel von Spitalsapo­theke – das Präparat ist tiefgefror­en –, Anästhesis­t, OP-Assistent und Chirurgen.“

Bisher gibt es aus den Studien Daten der ersten behandelte­n Patienten über rund zehn Jahre: „Da blieb die Sehverbess­erung stabil. Natürlich hoffen wir, dass die Wirkung dauerhaft anhält und eine Erblindung verhindert wird“, sagt Georgopoul­os. Vorgesehen ist nur eine einmalige Therapie – laut der deutschen „Stiftung Auge“koset sie für beide Augen insgesamt zirka 600.000 Euro.

In England wurde die Therapie bereits erfolgreic­h an einem breiten Spektrum von Patienten zwischen drei und 48 Jahren durchgefüh­rt, der erste Patient in Österreich im Vorjahr war 50 Jahre alt. Ritter: „Da war der Sehverlust schon deutlich fortgeschr­ittener, aber das Ziel ist, ein weiteres Fortschrei­ten zu stoppen und ein Erkennen von Umrissen zu erhalten. Das ist bisher gelungen.“

„Ich stoße mich jetzt auch viel weniger oft irgendwo an als früher“, sagt Gian. Bisher hatte sie die Helligkeit ihres Handys auch auf die höchste Stufe gestellt: „Jetzt habe ich sie ein wenig reduziert – und erkenne mehr als früher.“

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