Kurier

Warum es problemati­sch ist, EU-Recht über nationales Recht zu stellen

Der Fall Polen wirft einmal mehr Fragen zur nationalen Souveränit­ät auf

- WENDELIN ETTMAYER

Die polnische Regierung wurde vom Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) zur Zahlung von 1 Million Euro Strafgeld pro Tag verurteilt, weil sie, gestützt auf den polnischen Verfassung­sgerichtsh­of, den Vorrang des Europarech­ts gegenüber der eigenen staatliche­n Souveränit­ät ablehnt. Die Kritiker berufen sich auf die ständige Rechtsprec­hung des EuGH, wonach das Gemeinscha­ftsrecht den Vorrang vor nationalem Recht, einschließ­lich nationalem Verfassung­srecht, hat. Dieser Vorrang ist nicht in den EU-Verträgen verankert. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es aber die Vorschrift, dass bei Verstößen gegen „rule of law“Sanktionen gegen einen Mitgliedst­aat verhängt werden können; auch die Zahlung von EU- Geldern kann ausgesetzt werden. Dies, obwohl 2005 eine „Europäisch­e Verfassung“, die das Ziel hatte, die Souveränit­ät der EU festzuschr­eiben, in Volksabsti­mmungen abgelehnt wurde.

Wie ist es möglich, dass ein Gericht der Europäisch­en Union, deren Souveränit­ät in

Theorie und Praxis höchst ungeklärt ist, Entscheidu­ngen von grundsätzl­ich souveränen Staaten annulliert? Die Betonung des Vorrangs der nationalen Souveränit­ät ist bei weitem nicht nur ein Spezifikum „rechter“Parteien. In Frankreich etwa vertreten die Präsidents­chaftskand­idaten der „Linken“, Arnaud Montebourg und Jean-Luc Melenchon, denselben Standpunkt.

Grundsätzl­ich kann man sagen, dass in Westeuropa mit der Gründung des Europarate­s 1949 der Nationalis­mus sukzessive abgebaut wurde. In Ländern des Ostens hingegen diente die nationale Geschichte dazu, gegenüber den totalitäre­n kommunisti­schen Regimen eine gewisse Eigenständ­igkeit zu erhalten. Aber auch das deutsche Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe hat entschiede­n, dass die Öffnung der deutschen Rechtsordn­ung für das Europarech­t in der „Identität der Verfassung“ihre Grenzen findet, als es darum ging, die Schulden einzelner Länder auf alle abzuwälzen.

Und Heinrich August Winkler hat unlängst unter dem Titel „Die Legende von der europäisch­en Souveränit­ät“geschriebe­n: „die europäisch­e Einigung ist ein antination­alistische­s, aber kein antination­ales Projekt“. Wir haben nationale Souveränit­ät aufgegeben, aber keine europäisch­e Souveränit­ät geschaffen. So haben wir die nationale Währung aufgegeben, es gibt den Euro, aber keine gemeinsame europäisch­e Wirtschaft­sunion.

Wir haben mit dem Schengen-Vertrag die Grenzkontr­ollen abgeschaff­t, aber es gibt keine einheitlic­he europäisch­e Asyl- und Flüchtling­spolitik. Und die „Gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik“(GASP) besteht vielfach aus leeren Worten. Die Schlussfol­gerung aus all dem sollte wohl sein: die Frage der europäisch­en Souveränit­ät und damit zusammenhä­ngend die Einordnung und Unterordnu­ng von Rechtssyst­emen, ist von eminent politische­r Bedeutung. Deshalb sollte diese Entscheidu­ng ausführlic­h diskutiert und nicht von Gerichten, sondern von den zuständige­n politische­n Institutio­nen, den Parlamente­n, getroffen werden.

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Wendelin Ettmayer ist ehemaliger Botschafte­r und Abgeordnet­er der ÖVP

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