Kurier

Abschied von der Gewissheit

- VON MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

Es gab eine recht kurze Phase in der Zweiten Republik, da konnte man sich in wohliger Gewissheit wiegen: dass uns der Fortschrit­t vor Seuchen und Stromausfa­ll bewahrt; dass private Konversati­on privat bleibt; dass man dem Arbeitgebe­r (und dem Ehepartner) ein Leben lang verbunden bleibt; dass Regierunge­n eine Legislatur­periode halten und Parteien am Ende einen Konsens finden, ohne einander vernichten zu wollen. Alles vorbei.

Nach jedem Lockdown hat man sich keinen weiteren vorstellen können und nach jeder Regierungs­krise Stabilität erhofft. Mittlerwei­le ist klar, dass wir da wie dort im Blindflug unterwegs sind. Was wechselsei­tig keine gute Idee ist. Denn eine stabile Regierung könnte auch Unpopuläre­s leichter durchsetze­n. (Wobei: Wirklich wagemutig war Türkis-Grün nie.)

Schon länger vorbei ist die Zeit, als man in Technik Zukunft sah. Das ist in der Pandemie besonders fatal. Eine Allianz aus Ideologen, Geschäftem­achern und Boulevardm­edien hat zum Beispiel Gentechnik so lange verteufelt, bis viele Österreich­er selbst den darauf begründete­n medizinisc­hen Fortschrit­t ablehnten und sich dafür lieber in esoterisch­e Heilslehre­n flüchteten. Seit Langem wird die gesamte Pharmaindu­strie dämonisier­t. Die Fortschrit­tsfeindlic­hkeit hat auch vernünftig­es Contact Tracing mit einer App verhindert.

Die Wurzeln der Wissenscha­ftsfeindli­chkeit und der Hang zu „Natur- und Reformmedi­zin“reichen tief: bis ins

„völkische“Gedankengu­t der Zwischenkr­iegsund Nazizeit. Es ist kein Zufall, dass es in den blauen Hochburgen Österreich­s die geringsten Impf-, aber höchsten Ansteckung­sraten gibt.

Die Technikfei­ndlichkeit zieht sich bis hinein in die Energiepol­itik. Über Atomkraft kann hierzuland­e ohnehin nicht diskutiert werden. Allerdings auch nicht darüber, dass wir keine Chance haben, nur mit Wind, Wasser und Sonne den stark steigenden Strombedar­f zu decken. Da entwickelt sich gerade ein verlogener Populismus. Das böse Erwachen hat schon begonnen – der Schreck beim Anblick der Gas- und Stromrechn­ung wird nachhaltig.

War früher also mal alles besser? Aber nein, wir haben es nur vergessen: den Kalten Krieg, die Ölkrise, das Waldsterbe­n und den lähmenden Proporz der Großen Koalition. Damals wurde bis ins kleinste Sekretaria­t nach Parteibuch besetzt – und niemand stieß sich daran, wenn eine Regierungs­partei einen Casinos-Finanzvors­tand bestimmte. Es ist schon gut, dass das nicht mehr selbstvers­tändlich ist, aber die großen Skandale finden sich wohl woanders und werden nicht (mehr) über Chatnachri­chten kommunizie­rt.

Letztlich bleibt nur eine einzige Gewissheit: Die Regierende­n werden in dieser atemlosen Zeit kaum mit ruhiger Hand die wirklich wichtigen Reformproj­ekte angehen können.

In der Pandemie und auch in der Politik sind wir im Blindflug unterwegs. Zu viel Populismus verhindert vernünftig­e Lösungen

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