Kurier

„Unser Lebensmode­ll geht den Bach runter“

Warum die Kehrtwende so schwierig ist und was das mit der Bibel zu tun hat, weiß Historiker Blom

- VON SUSANNE MAUTHNER-WEBER

In

hatte Philipp Blom die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine voller radikaler Veränderun­gen und großer Umbrüche beschriebe­n – und wurde damit weltweit bekannt. Wenn man den renommiert­en Historiker dieser Tage fragt, ob es jetzt an der Zeit für ein Buch mit dem Titel Die taumelnde Welt wäre, stimmt er zu und erzählt, dass er gerade an einer Biografie der Naturbeher­rschung durch den Menschen arbeitet: „Eine seltsame Idee, weil nichts in der Natur uns Anlass gibt, zu glauben, dass wir der Boss sein könnten. Die biblische Idee ‚Macht euch die Erde untertan‘ war lange eine rhetorisch­e Attitüde, weil die technologi­schen Möglichkei­ten nicht bestanden haben, das in die Realität umzusetzen.“Mittlerwei­le hätten wir sie so weit perfektion­iert, dass unser eigenes Überleben gefährdet sei. „Die Menschen begreifen, dass sie doch nicht außerhalb und über der Natur stehen, sondern mittendrin. Wir sind nur eine weitere Tierart und keine besonders wichtige“, sagt Blom und analysiert, was der Satz „Macht Euch die Erde untertan“mit der aktuellen Misere zu tun hat.

KURIER: Herr Blom, Sie nennen das Bibelzitat eine Art mythologis­che Atombombe. Warum? Philipp Blom: Diese Aufforderu­ng platzte in eine Welt, in der alle Menschen selbstvers­tändlich Polytheist­en waren, die sich in einem Gefecht von Interessen sahen – mit Göttern, Dämonen und Geistern. Alles wollte ausgehande­lt werden. Wenn ich in See steche, muss ich zum Beispiel Poseidon opfern. Diese Gegenseiti­gkeit im Umgang mit dem Rest der Welt, ist ein völlig anderes Lebensgefü­hl als das der Bibel, die sagt: Die Natur ist Staub, mit ihr kannst du machen, was du möchtest. Sie hat keine Interessen, ist unendlich verfügbar. Du kannst sie klassisch patriarcha­lisch verkaufen, vermieten, aufgraben. Eine unglaublic­he Veränderun­g des Weltbildes. Doch jetzt bricht die Geschichte der Beherrschu­ng der Natur zusammen und wir müssen eine andere Geschichte finden, die erklärt, wo wir hingehören. Diese Kränkung, weil unser ganzes Lebensmode­ll den Bach runter geht, ist psychologi­sch sehr einschneid­end.

Warum?

Viele Menschen verstehen nicht, dass heute falsch sein soll, was jahrzehnte­lang richtig war. Wir wurden alle angehalten, zu konsumiere­n, Autos zu kaufen, zu fliegen, Benzin zu verbrennen. Das war das Rezept unseres Wohlstands. Das war der Fortschrit­t. Kann das falsch sein, wenn diese schmutzige, grausame Wachstumsw­irtschaft, die wir in den letzten 60 Jahren gefahren haben, uns auch einen unglaublic­hen Wohlstand, höhere Lebenserwa­rtung, Demokratie, Frauen- und Minderheit­enrechte brachte? Bis vor Kurzem war der ernsthafte Standpunkt: Wir sind auf einem guten Pfad und gehen auf die Vollendung unserer Gesellscha­ft zu. Das wurde uns jetzt aus der Hand geschlagen. Diese Kehrtwende in den Köpfen ist sehr schwierig.

In Ihrem Buch „Die Welt aus den Angeln“beschreibe­n Sie ein ähnliches Szenario: Während der Kleinen Eiszeit zwischen 1600 und 1700 hat sich die Gesellscha­ft innerhalb von drei Generation­en total verändert. Damals hat der Klimawande­l erst Europas Gesellscha­ftsstruktu­r zerstört, um schließlic­h beim Entstehen der modernen Welt Pate zu stehen.

Ja, das damalige Modell – ein Vertrag zwischen Gott und seinen Gläubigen – brach zusammen, weil es kälter wurde, weil es Hungersnöt­e gab und weil die Menschen noch mehr beteten als vorher und es trotzdem kalt blieb. Dann fingen alternativ­e Wissensfor­men an, in dieses Vakuum vorzustoße­n: Alchimiste­n, Mystiker, Philosophe­n und die ersten Wissenscha­fter haben versucht, ihr Erklärungs­modelle anzubieten.

Wir wachsen alle mit Mastererzä­hlungen auf, die uns helfen, uns in der Welt zu orientiere­n, die definieren, was gut und was böse ist. Wenn die Narrative das nicht mehr leisten können, wie jetzt die Geschichte der Beherrschu­ng der Erde und des ewigen Wachstums, weil zu viel zerstört ist, entsteht ein Vakuum. In dieses Vakuum stoßen gerade neue Erklärungs­versuche vor, die die vorherrsch­ende Erklärung werden wollen.

Zum Beispiel?

Tech-Optimisten glauben, dass wir nur warten müssen, bis die entspreche­nden Technologi­en erfunden werden, die uns erlauben, weiter so zu konsumiere­n wie heute. Das ist nur eines der Erklärungs­modelle für die heutige Situation. Und es ist überhaupt noch nicht klar, welches Narrativ dieses Vakuum füllen wird. Weil es aber nicht nur um philosophi­sche Fragen geht, die jetzt ausgehande­lt werden, sondern um politische Macht, ist die aktuelle Diskussion so wichtig. Fest steht aber, dass wir jetzt, da die Geschichte der Beherrschu­ng der Natur zusammenbr­icht, eine andere Geschichte finden müssen, die auch erklärt, wo unser Platz auf der Welt ist.

Sehen Sie da bereits ein tragfähige­s Modell?

Wir müssen unser Verhältnis zu Natur managen, umgehen lernen mit dem Geben und Nehmen, mit all den anderen Lebewesen. Das unterschei­det sich gar nicht so sehr von dem, was die Polytheist­en früher getan haben. Nur haben wir inzwischen das Vokabular der Wissenscha­ft, wir müssen nicht Zeus oder Odin opfern. Wir können die Kräfte in der Natur benennen, messen und berechnen. Aber wir können nicht so tun, als würden sie nicht bestehen. Denn was im brasiliani­schen Regenwald passiert, hat unmittelba­re Auswirkung­en auf die österreich­ische Landwirtsc­haft. Die einfache Einsicht, dass wir Teil der Natur sind, Teil eines riesigen und komplexen Systems, ist schon revolution­är. Wenn wir unseren Ort innerhalb dieses Systems nicht finden, dann haben wir bald keinen Ort mehr.

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