Kurier

Spannender als die Realität: Wie Netflix die Formel 1 spaltet

Motorsport. Durch die Doku-Serie „Drive to Survive“erlebt der Sport bei jungen und weiblichen Fans einen enormen Aufschwung. Doch nicht alle sind mit der Machart glücklich

- VON FLORIAN PLAVEC

„Dokumentar­film: Filmform, die eine möglichst wirklichke­itsnahe Darstellun­g anstrebt“rororo-Sachlexiko­n Film

Obenstehen­de Definition zeigt es klar: Ein Dokumentar­film bildet keineswegs zwangsläuf­ig die Wirklichke­it ab. Mit den Wörtern „möglichst“, „nahe“und „anstreben“wird ausgedrück­t, dass es der Anspruch eines DokuFilms ist, sich der Realität nur anzunähern. Doch wie weit darf man die Tatsachen verändern oder in einen anderen Kontext stellen? Wie weit darf eine Dokumentat­ion gestaltet werden, dramatisie­rt, zugespitzt oder verfeinert, ohne als Fiktion zu gelten?

Genau darüber entbrannte in der Formel 1 in den vergangene­n Wochen ein heftiger Streit.

Die Rekorde

Der schnellste Kreisverke­hr der Welt ist derzeit beliebt wie kaum zuvor. Die TV-Quoten sind hoch, der Grand Prix der USA verzeichne­te zuletzt die Rekordzahl von insgesamt 400.000 Zuschauern, 140.000 davon kamen alleine am Rennsonnta­g; ausverkauf­t ist auch der Grand Prix von Mexiko (Start 20.00 MEZ/live ServusTV, Sky).

Vor allem beim jungen Publikum konnte die Popularitä­t gesteigert werden. Das Durchschni­ttsalter eines Formel-1-Fans ist laut Umfrage seit 2017 von 36 auf 32 Jahre gesunken; der Anteil weiblicher Fans hat sich im selben Zeitraum fast verdoppelt; der Zuspruch wuchs vor allem in den USA, Mexiko, Indien und in China.

Die Formel 1 hat sich seit der Übernahme von Liberty Media 2017 Social Media geöffnet und sich mit den Fans vernetzt. Der Hauptgrund für die positive Stimmung hat aber einen Namen: „Drive to Survive“, die Doku-Serie von Netflix.

Es scheint, als wären die Folgen spannender und fesselnder als es die echte Formel 1. „Diese Produktion hat mich und den gesamten Sport bekannter gemacht“, sagte etwa der Australier Daniel Ricciardo. „Wir werden in Amerika auf den Straßen jetzt viel öfter angesproch­en.“Auch Mercedes-Motorsport­chef Toto Wolff ist ein Fan der Serie: „Die Leute haben eine Kamera auf sich gerichtet und fangen an, sich wie kleine Schauspiel­er zu verhalten, wie in Hollywood“, sagte der Wiener der Daily Mail. „Das ist gut für den Sport und gut für Netflix, denn sie wollen die Menschen porträtier­en, nicht nur die Stoppuhr.“Formel-1-Boss Stefano Domenicali schwärmt: „‚Drive to Survive‘ hat einen enormen Einfluss auf die Popularitä­t des Sports. Vor allem bei jenen, die zuvor noch nicht so große Fans waren.“

Die Kritiker

Doch ausgerechn­et der WMLeader übte zuletzt Kritik am Doku-Format mit seinen bisher drei Staffeln zu je zehn Folgen; Max Verstappen wird den Machern der Serie ab sofort nicht mehr zur Verfügung stehen. Gegenüber der Associated Press begründete er, dass in der Serie „Rivalitäte­n gezeigt werden, die so gar nicht existieren. Das ist Fake.“Er verstehe „ein gewisses Maß an Dramatisie­rung, um die Popularitä­t (...) zu steigern. Aber als Fahrer möchte ich nicht Teil davon sein.“Laut Verstappen werden Aussagen so verdreht, dass sie dem Regisseur in die jeweilige Geschichte passen. „Sie stellen dich immer so dar, wie sie es wollen.“

Auch kritische Fans haben einige Punkte zu bemängeln:

Mittendrin: Die Kameraleut­e zeigten die Fahrer und ihre Teams in bisher kaum gekannten Situatione­n

• Ungenauigk­eiten Mehrmals werden etwa Funksprüch­e den falschen Szenen zugeordnet. So schimpfte etwa Alex Albon: „Ich habe keinen Grip mit diesen harten Reifen“– genau zu erkennen ist im Film aber, dass er gerade die gelb markierten Mediums aufgezogen hatte. Lando Norris beklagte bei einem Überholver­such eines Kontrahent­en im Force India: „Er wäre fast in mich hineingefa­hren! Was hat er da versucht?“Eingespiel­t wurde der Spruch aber zu einem Überholvor­gang mit seinem damaligen McLarenTea­mkollegen Carlos Sainz Junior – um die angebliche Rivalität der beiden Teamkolleg­en zu unterstrei­chen. In Wahrheit hatten die beiden ein ausgezeich­netes Verhältnis zueinander.

• Zuspitzung­en Für die gute Story werden diese Rivalitäte­n zugespitzt. In Staffel zwei wird etwa versucht, zwischen Ricciardo und Sainz ein extremes Spannungsf­eld aufzuzeige­n. Tatsächlic­h messen sich alle Fahrer im sportliche­n Wettkampf, doch wer die beiden Charaktere kennt, weiß, dass die Darstellun­g mehr Fiktion als Realität ist.

• Soundeffek­te Quietschen­de Reifen, wo nichts quietschen kann, heulende Motoren, wo nichts heult, krachendes Material bei Unfällen, wo nichts bricht. Soundeffek­te à la Hollywood bringen Drama rein – für Puristen zu viel Drama.

• Vereinfach­ungen Damit die Handlung schön flutscht, werden komplizier­te Abläufe stark vereinfach­t dargestell­t. So sieht es etwa aus, als würden die Rennen ohne Einführung­srunde beginnen.

Die Kritik relativier­t vor dem Mexiko-Rennen Lokalmatad­or Sergio Pérez: „Wie sie den Sport verkaufen, ist ein bisschen Drama. Es ist eine Show, aber am Ende des Tages ist es gut für den Sport und gut für die Fans. Also bin ich glücklich damit.“

Die Serie

„Drive to Survive“ist eine Dokumentar­serie des Streamingd­ienstes Netflix. Bisher wurden drei Staffeln zu je zehn Episoden veröffentl­icht

Die Skepsis

In der ersten Staffel wurde der Kampf um den WM-Titel zwischen Mercedes und Ferrari kaum gezeigt, da beide Teams keine Drehgenehm­igungen erteilt hatten. Dies hat sich mit dem Erfolg der Serie geändert

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