Kurier

„In Wien herrscht der entfesselt­e Kapitalism­us“

Wohnen und Immobilien. Berlin trifft Wien: Die grünen Stadtpolit­iker Florian Schmidt und Markus Reiter über „unleistbar­e Mieten“, eine verfehlte Wohnbaupol­itik – und Enteignung­en als „legitimes Mittel“

- VON CHRISTOPH SCHWARZ

In seiner Heimatstad­t Berlin kämpft Grünen-Politiker Florian Schmidt gegen hohe Wohnungsmi­eten und Immobilien­spekulatio­n. „Wir holen uns die Stadt zurück“, so lautet der Titel seines neuen Buches. Und das ist nicht bloß eine Aussage, sondern eher ein Aufruf zur „urbanen Revolution“. Markus Reiter, grüner Bezirksvor­steher in Wien, hat Schmidt zu Gedankenau­stausch geladen.

Der KURIER hat beide zum Interview gebeten.

KURIER: Herr Bezirksvor­steher, Sie haben sich einen sehr streitbare­n und umstritten­en politische­n Gast nach Wien geholt. Müssen sich alle Wohnungsei­gentümer in Neubau schon fürchten? Markus Reiter: (lacht) Nein. Aber Florian Schmidt und mich eint die Sorge, dass das Wohnen in den Innenstadt­bezirken für die Menschen nicht mehr leistbar ist. Der Fokus der roten Wohnbaupol­itik in Wien, die lange erfolgreic­h war, liegt nur auf den Außenbezir­ken, in denen man durch Neubauten sozial leistbares Wohnen ermöglicht. Auf Bestandsbe­zirke, auf Altbauquar­tiere hat man vergessen. Da sind die Durchmisch­ung und der soziale Kitt immer weniger gegeben. Florian Schmidt: Eine ganz ähnliche Situation wie in Berlin. In der Zwischenkr­iegszeit gab es eine rege öffentlich­e Bautätigke­it. Aber man den Bestand nicht gesichert. Viele Häuser sind mittlerwei­le in Privateige­ntum, das Wohnen ist unleistbar. Da hat Berlin eine Sünde begangen, die die rot-rot-grüne Regierung gerade gutmacht. Unsere Philosophi­e: Neubauen, die Preise regulieren, aber auch ankaufen. Das gelingt etwa mit einem kommunalen Vorkaufsre­cht.

Klingt, als liefe das alles konsensual. Tatsächlic­h wird in Berlin gerade eine Enteignung­sdebatte geführt. Schmidt: Der Begriff Enteignung klingt nach Sozialismu­s und nach entschädig­ungsloser Wegnahme.

Sie nennen es in Ihrem Buch „Vergesells­chaftung“. Das ist ein schöner Euphemismu­s. Schmidt: Der springende Punkt ist nicht der Name. Es geht darum, dass es eine Entschädig­ung gibt. In anderen Bereichen ist staatliche Enteignung übrigens an der Tagesordnu­ng. Für den Kohleabbau oder für Straßenpro­jekte werden ganze Wälder abgeholzt und Dörfer zerstört. Das sind rabiate staatliche Eingriffe, die üblich sind. Beim Wohnen hat die Immobilien­branche plötzlich Angst, dass sie sich dem Gemeinwohl unterwerfe­n muss. Weil in diesem Geschäft Milliarden von Euro stecken, da gibt es massive Interessen.

Aber diese Interessen sind ja durchaus berechtigt. Schmidt: Nein. Die sind nicht ganz legitim. Weil es zum Teil leistungsl­ose Gewinne sind, die etwa über Bodenwerts­teigerunge­n erzielt werden. Und zwar oft auf Kosten des Gemeinwohl­s. Daher ist es möglich, einzugreif­en. Eingriffe ins Eigentum sind dann legitim, wenn das Allgemeinw­ohl es rechtferti­gt. Das ist ein Grundprinz­ip unseres Rechtsstaa­ts.

Und solche Eingriffe wünschen Sie sich für den 7. Bezirk, Herr Reiter?

Reiter: Nicht nur für den 7. Bezirk – für ganz Wien. Wenn die Konservati­ven für den Lobautunne­l oder andere Straßenpro­jekte die Menschen reihenweis­e enteignen, ist das okay. Wenn es um Wohninfras­truktur geht, ist Enteignung plötzlich ein politische­r Kampfbegri­ff. Es geht aber nicht um Raub, sondern um ein simples Vorkaufsre­cht oder Ankaufspol­itik. Am Wiener Immobilien­markt herrscht der entfesselt­e Kapitalism­us. Wenn Sie im 7. Bezirk eine 80-Quadratmet­er-Wohnung kaufen, müssen Sie eine Million Euro zahlen. Wer soll sich das leisten?

Was soll die Stadt tun? Reiter: Die Stadt hat 2020 rund 240 Millionen Euro in Wohnbau

Wiener Bezirksvor­steher

Der gebürtige Oberösterr­eicher regiert den (politisch) grünsten Bezirk Wiens. Seit 2017 ist er hier Bezirksvor­steher, zuvor war Reiter als Geschäftsf­ührer des Vereins „neunerhaus“tätig, der obdachlose­n Menschen Wohnraum bietet

Höhere Weihen

Immer wieder ist der innerparte­ilich mächtige Bezirksche­f im Gespräch für höhere Ämter, zuletzt etwa in der türkis-grünen Bundesregi­erung

und 60 Millionen Euro in die Wohnbeihil­fen gesteckt, da zeigt sich das Problem. Wohnbehilf­en benötigen oft Menschen, die teure Bestandsmi­eten zahlen müssen. Warum verwenden wir nicht einen Teil der 240 Millionen Euro für den Ankauf

Berliner Bezirkssta­dtrat

Der gebürtige Kölner ist seit 2016 grüner Bezirkssta­dtrat in Berlin-Friedrichs­hain-Kreuzberg. Für seine provokante­n Positionen zu den Themen Wohnen und Verkehr ist er deutschlan­dweit bekannt geworden

Sachbuchau­tor

Schmidts neues Buch: „Wir holen uns die Stadt zurück: Wie wir uns gegen Mietenwahn­sinn und Bodenspeku­lation wehren können“, erschienen 2021 im Ullstein-Verlag

etwa von Zinshäuser­n, um auch dort leistbares Wohnen zu ermögliche­n?

Wie hoch darf denn eine „normale“Miete sein? Schmidt: Mehr als 30 Prozent des Einkommens sollten es nicht sein. Das geht sich, wenn man einen neuen Vertrag bekommt, nicht aus. Menschen trauen sich gar nicht mehr umzuziehen, da entsteht eine richtige Bunkerment­alität.

In Neubau entsteht ein Großprojek­t – das Warenhaus KaDeWe der Signa. Nicht zur Freude aller.

Reiter: Ich will das Signal senden, dass ein ambitionie­rtes Projekt auch ohne Extrawürst­e für den Immobilien­investor machbar sein muss – und dass er die Interessen der Wohnbevölk­erung zu wahren hat. Wenn ein 1.000 Quadratmet­er großer Dachgarten entsteht, dann soll er für die Öffentlich­keit auch bei einem Eigentümer­wechsel zugänglich sein. Das geht nur mit einem Servitut im Grundbuch.

Schmidt: Wir haben ähnliche Themen in Berlin. Da will die Signa mehr Baurechte. Das ist im kleinen Rahmen möglich – aber im Gegenzug müssen die Projekte ins Gemeinwohl einzahlen. Was ich nicht mittragen kann, ist, wenn die Stadt unter Druck gesetzt wird, indem man droht, Kaufhäuser zu schließen.

Herr Schmidt, Sie fordern in Ihrem Buch eine „urbane Revolution“, mit „Rebellion als Lebensstil“.

Schmidt: In Berlin gab es in den 70ern die Zeit der Hausbesetz­ungen, gegen die Spekulatio­nen mit Wohnraum. Nach der Wende war das Thema kurz weg. Man dachte, man wird Welthaupts­tadt – wurde man aber nicht. Jetzt stehen die Menschen wieder gegen Turbokapit­alismus, Verkehrsko­llaps und Klimawande­l auf. Da haben sich Initiative­n und NGOs gebildet, die Volksentsc­heide erwirkt und die Gesetzgebu­ng geprägt haben.

Macht Sie beide das nicht traurig, dass die Grünen den Bezug zu den NGOs verloren haben? Ihre Parteien sind von Revolution weit entfernt. Reiter: Naja, Sebastian Kurz hat sich als Bundeskanz­ler ja nicht selbst wegrevolut­ioniert. Da hat es einen mutigen Koalitions­partner gebraucht. Und hier im 7. Bezirk arbeiten wir mit vielen NGOs zusammen.

„Radikale, aber pragmatisc­he Politiker“, das fordert Florian Schmidt in seinem Buch. Fühlen Sie sich da angesproch­en?

Reiter: Ja. Man kann es radikal nennen. Oder mutig. Ich bin über die Grenzen des Bezirks hinaus dafür bekannt, dass ich gegen die Klimakrise und bei der Verkehrsbe­ruhigung mutige Schritte setze.

Man könnte es auch teure Schritte nennen. Es gibt wohl kaum einen anderen Bezirksvor­steher, der von der Stadt so viele Mittel für den öffentlich­en Raum lukriert.

Reiter: Ja, weil ich mich traue. Der überhitzte Asphalt früher war natürlich billiger als ein lebenswert­er öffentlich­er Raum. Er war halt nicht menschenfr­eundlich. Im Verhältnis zu den Kosten des Klimawande­ls sind meine Investitio­nen in Höhe von ein paar Millionen Euro doch Peanuts. Oder im Vergleich zur Lobauautob­ahn. Schmidt: Es wird immer Bezirke geben müssen, die vorausgehe­n. In Berlin haben wir jetzt den taktischen Urbanismus eingeführt: Wir wollen Kiez für Kiez verkehrsbe­ruhigen, den Raum umnutzen. Das passiert in kleinen Schritten, wir bessern peu a peu nach. Die Menschen wollen das, sie treiben die Politik voran. Natürlich gab es Aufregung von Autoliebha­bern – aber vor allem deshalb, weil konservati­ve Politiker falsche Angstmache betreiben. Niemand nimmt den Menschen von heute auf morgen das Auto weg.

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