Kurier

Lügen darf sich nicht lohnen

WISSENSCHA­FT UND BLÖDSINN

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Wie konnte das passieren? Wir leben doch im goldenen Zeitalter der Informatio­n. Und trotzdem verbreiten sich Unsinnsges­chichten, Faktenverb­iegereien und blanke Lügen schneller als je zuvor. Liegt es daran, dass zu viele Menschen zu ungebildet sind? Müssen wir einfach allen Leuten Wissenscha­ft und logisches Denken beibringen, und alles wird gut? Nein. Es geht nicht um Dummheit oder mangelnde Fähigkeite­n im Umgang mit Statistike­n und Exponentia­lfunktione­n. Das Problem ist: Uns ist der Konsens verloren gegangen, dass Lügen prinzipiel­l etwas Unanständi­ges ist.

Einige wichtige Lebensrege­ln sollte man eigentlich schon im Kindergart­enalter lernen: Es gibt Fakten, die einfach wahr sind, auch wenn sie mir nicht gefallen. Wenn jemand meine Aussage widerlegt, dann kann ich sie nicht einfach stur wiederhole­n, sondern muss zugeben, dass ich falsch lag. Aber genau diese Kindergart­en-Selbstvers­tändlichke­iten sind ins Rutschen geraten: Jeden Tag wird uns beigebrach­t, dass es in Ordnung ist, die Fakten zu verbiegen. Die Regierung sagt etwas anderes als letzte Woche? Ach, das ist nun mal so! Ganze Branchen leben vom Faktenverb­iegen, etwa die Werbeindus­trie: Kaufen Sie unser Haarshampo­o! Für 30 % mehr natürliche­n Glanz! Was soll das überhaupt heißen? Hat das jemand nachgemess­en? Wie denn, mit einem Haarglanzo­meter? Wir fühlen uns nicht einmal mehr wirklich betrogen, wenn uns reißerisch­e Werbebotsc­haften hinters Licht führen: Ach, das ist ja bloß Werbung, da ist ein bisschen Schummeln doch wohl erlaubt! Von Boulevardm­edien werden uns grellbunte Überschrif­ten ins Gesicht geworfen, die mit der Wahrheit kaum etwas zu tun haben. Aber die Auflage steigt. Die Klickzahle­n gehen durch die Decke, also muss man hier ja wohl etwas ichtig gemacht aben! Der freie arkt entscheide­t! Und so ist es kein Wunder, wenn sich in vielen Köpfen ganz unbemerkt die Überzeugun­g breitmacht: Lügen ist erlaubt – nur Erwischtwe­rden nicht! Wenn jemand stolz erzählt, dass beim Vorstellun­gsgespräch ziemlich dick aufgetrage­n hat, um den Job zu bekommen, dann wird ihm gratuliert. Wenn jemand einen gutgläubig­en Geschäftsp­artner beim Vertragsab­schluss ausgetrick­st hat, dann bekommt er eine Prämie.

Das ist eine Gefahr. Einen demokratis­chen Wettbewerb der Ideen kann es nur geben, wenn sich alle an gewisse Regeln halten. Sonst sind wir irgendwann in derselben Situation wie ein Schachgroß­meister, der gegen eine Taube verliert, weil sie Spielfigur­en umwirft und einen großen, ekligen Klecks auf dem König hinterläss­t. Dagegen kann man nicht gewinnen, auch wenn man die besten Züge kennt. Es genügt nicht, auf Wissenscha­ft, Bildung und Informatio­n zu setzen. Zuallerers­t brauchen wir ein Mindestmaß an Anstand. Es darf sich in unserer Gesellscha­ft nicht lohnen, sich die Fakten zurechtzub­iegen, wie man sie haben möchte. Sonst ist all unser Wissen letztlich umsonst.

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Florian Aigner ist Physiker, Buchautor und Wissenscha­ftserkläre­r.

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