„Mir tun die Athleten ein bisschen leid“
Gregor Schlierenzauer. Was der Tiroler Rekordspringer nach seinem Rücktritt vermisst, was er über Olympia denkt und in welcher Branche er seine Zukunft sieht
Gregor Schlierenzauer hatte sich ursprünglich die Winterspiele in Peking noch zum Ziel gesetzt. Doch der 32-Jährige beendete im Herbst seine Karriere. Seinen allerletzten Sprung machte er am 20. Februar 2021, 120 Meter auf der Inselbergschanze in Brotterode (GER), bei der Landung verletzte er sich am Knie.
KURIER: Brotterode? Nicht gerade ein würdiger Ort für den letzten Sprung.
Gregor Schlierenzauer: Das ist Ansichtssache. Der Sprung war gut, sogar richtig weit, nur die Landung war blöd für mein Knie. Aber ich bin mit mir nach wie vor im Reinen mit meiner Entscheidung. Ich habe nicht mehr hundertprozentig für das Skispringen gebrannt. Ich habe keinen Sinn mehr darin gesehen.
Geht Ihnen gar nichts ab?
Skispringen war für mich immer etwas Intimes. Da hat das Gefühl eine große Rolle gespielt. Am ehesten vermisse ich dieses Gefühl, in der Luft zu sein und für einige Sekunden zu fliegen. Man kann schwer beschreiben, was der Körper und das Gehirn da mit einem machen. Natürlich spielt in diesem Moment auch Adrenalin eine große Rolle.
Umgekehrt: Was vermissen Sie gar nicht?
Die Reisen. Das stellt man sich als Außenstehender immer luxuriöser und lässiger vor, als es in Wahrheit ist. Tatsächlich sieht man nur Flughafen, Hotel und Schanze. Am wenigsten vermisse ich aber den Erfolgsdruck, der auf mir gelastet ist.
War das so schlimm?
Während der Karriere nimmt man das gar nicht so wahr. Ich war von klein auf damit konfrontiert, das hat sich immer gesteigert – und irgendwann war der Druck normal. Wie viel Energie das kostet, wird dir erst bewusst, wenn du einmal draußen bist und eine andere Sichtweise bekommst. Das macht schon etwas mit einem Menschen, wenn man 15 Jahre in dem Radl ist und alles dem Sport unterordnet.
Von Ihnen wurden in Wahrheit immer Wunderdinge erwartet.
Du musst Wege finden, so gut es geht, damit umzugehen und es zu bewältigen. Aber es gab bei mir Zeiten, in denen es mir fast zu viel geworden ist. Ich habe da auch einen gewissen Schutzmechanismus entwickelt. Ganz unbewusst.
Wie hat der Schutzmechanismus ausgesehen?
Ich habe mich distanziert, war nicht sehr offen, sondern sehr reserviert. Ich musste die Energie sparen. Manchmal war ich schon am Limit.
Haben Sie Ihre Karriere genießen können?
Sicher nicht immer. Aber welcher Spitzensportler kann das schon? Ich hatte wunderschöne Momente und auch bittere. Aber in der Hinsicht ist der Sport nur ein Spiegelbild des Lebens.
War Ihnen zur aktiven Zeit bewusst, was Sie erreicht haben, oder sickert das erst jetzt mit zeitlichem Abstand?
Mir war das nicht klar, ich hatte dafür auch keine Zeit. Ich habe als Sportler immer versucht, meine Träume und Visionen zu leben. Deshalb habe ich auch selten zurückgeschaut und es nie so intensiv wahrgenommen. Es gab für mich immer eine Steigerung, immer das nächste Ziel. Das war auch wichtig, sonst hätte ich nie so viel erreicht.
Wie verfolgen Sie den Sport heute? Schauen Sie sich alle Springen an?
Manchmal stelle ich mir extra den Wecker, weil ich dabei sein will. Ab und zu vergesse ich aber auch, dass ein Springen ist.
Hätten Sie die Spiele in China denn noch gereizt?
Ursprünglich hatte ich das Ziel Olympische Spiele in Peking ganz oben. Da wollte ich noch einmal alles versuchen. Aber da hat sich dann in den letzten Jahren der Blickwinkel drastisch verändert. Mittlerweile bin ich froh, dass ich nicht dahin musste. Mir tun die Athleten ehrlich gesagt sogar ein bisschen leid.
Wieso?
Ich hatte das Privileg, die Winterspiele 2010 in Vancouver zu erleben. Dieser Spirit, den man dort erleben konnte, diese Kraft, die Olympische Spiele haben können – das waren erfüllende Momente, die sehr rar sind. Ich weiß, es ist eine herausfordernde Zeit wegen der Pandemie. Aber diesen olympischen Spirit vermisse ich in Peking.
Sapporo, Innsbruck und Lillehammer sind die einzigen drei Sprungschanzen der