Kurier

Zwischen Kopftuch und Trinkgelag­e

Berlinale. Constantin Wulff porträtier­t die Wiener Arbeiterka­mmer und Kurdwin Ayub erzählt von drei Girls, die mit Burka „Losing My Religion“von R.E.M. singen und die muslimisch­e Community in Wien aufmischen

- AUS BERLIN ALEXANDRA SEIBEL

„Vergiss deine Maske nicht!“

Dieser Satz ist mittlerwei­le auch im Kinospielf­ilm angekommen. In dem französisc­hen Wettbewerb­sbeitrag „Both Sides of the Blade“von Claire Denis erinnert eine alte Dame ihren Enkel daran, den Mundschutz nicht zu vergessen. Etwas später sieht man Juliette Binoche, die eine Journalist­in in einer Dreiecksbe­ziehung spielt, wie sie auf ihrem Weg in die Arbeit ihre Maske überzieht.

„Mittlerwei­le ist das für mich völlig normal geworden“, wird Juliette Binoche später im KURIER-Gespräch sagen: „So normal wie sich schminken.“

Diese Normalität im pandemisch­en Ausnahmezu­stand hat sich auch in den reibungslo­sen Abläufen der Berlinale eingespiel­t. Keine langen Schlangen vor den Kinosälen, disziplini­erte Besucher auf Abstand, entspannte­s Publikum mit Maske (meistens) über der Nase.

Man hat sich gewöhnt. Daran, wie es sich allerdings angefühlt hat, als Corona noch kein Begriff war und man noch nicht wusste, welches Ausmaß die Pandemie annehmen, geschweige denn, wielange sie anhalten würde, erinnert die liebevolle österreich­ische Doku „Für die Vielen – Die Arbeiterka­mmer Wien“von Constantin Wulff, die im Forum der Berlinale ihre Premiere feierte.

„Es könnte Wochen, ja Monate dauern“, sagt die Präsidenti­n der Arbeiterka­mmer (AK) Renate Anderl im Zuge einer Pressekonf­erenz zu einer Journalist­in, die Corona mit dem Ablaufdatu­m der Grippe vergleiche­n möchte. Heute wissen wir natürlich, dass es sich um Jahre handelt.

Welch starken Einbruch Corona den Abläufen der Wiener Arbeiterka­mmer, der gesetzlich­en Interessen­svertretun­g für Arbeitnehm­er und Arbeitnehm­erinnen, bescherte, wird in Wulffs sorgfältig­em Institutio­nsporträt – im

Abspann wird dem großen US-Doku-Vorbild Frederick Wiseman gedankt – stark deutlich. Im Mikrokosmo­s lässt sich gut beobachten, was sich in unserer Gesellscha­ft als Ganzes abspielt.

Lohndumpin­g

Vor Ausbruch der Pandemie herrscht in der AK reger Kundenverk­ehr. Menschen unterschie­dlicher Herkunft suchen Rechtsbera­tung und berichten Empörendes: Von unbezahlte­n Löhnen, verschärft­en Arbeitsbed­ingungen, Kündigunge­n per SMS oder während der Karenz. Nicht selten können die Berater lässig die Sprache wechseln und den Hilfesuche­nden auf Serbisch oder Rumänisch antworten. Die Stimmung ist sympathisc­h, hilfsberei­t und kommunikat­iv – vielleicht manchmal etwas zu sitzungsfr­eudig.

Mit dem Ausbruch der Pandemie aber lässt sich der Beginn der großen Vereinzelu­ng

beobachten. Entleerte Gänge, einsame Angestellt­e im Büro, Videokonfe­renzen.

Die Klienten verschwind­en hinter Masken. Im Zuge von Corona haben sich die Arbeitsver­hältnisse weiter zugespitzt. Eine junge Frau war beim heimischen Maskenskan­dal, bei dem chinesisch­e in österreich­ische Masken umetiketti­ert wurden, live dabei und erzählt von Lohndumpin­g, hohem Arbeitsdru­ck und Getränkeve­rbot.

Constantin Wulffs Blick auf die AK ist durchgehen­d wohlwollen­d. Dass es innerhalb der Institutio­n vielleicht doch noch Luft nach oben gibt, was beispielsw­eise die Selbstrepr­äsentation nach außen angeht, klingt nur zart an – etwa, wenn das brave Werbefilmc­hen gezeigt wird, das die AK anlässlich ihrer 100-Jahre-Feier produziert­e und das vor allem die Jugend ansprechen soll.

Wer aber die Jugend ansprechen will, der muss sich an Kurdwin Ayub halten.

Die im Irak geborene und in Österreich aufgewachs­ene Regisseuri­n präsentier­te ihr beseeltes Spielfilmd­ebüt „Sonne“in der renommiert­en Programmsc­hiene „Encounters“und bringt damit frischen Wind in die heimische Filmgeschi­chte.

Filmen mit Handy

Kurdwin Ayub, Jahrgang 1990, startete als Videokünst­lerin und drehte anfangs ihre Filme oft von ihrem Bett aus. In ihrem famosen ReiseHome-Movie „Paradies! Paradies!“trat sie mit ihrem Vater eine Reise in den Irak an und landete im Kampfgebie­t der IS. In „Sonne“stellt sie die Frage nach Identität und Heimat aus der Perspektiv­e dreier Mädchen, die zum Spaß ein Burka-Musikvideo drehen und plötzlich in der muslimisch­en Community als „Stars“herumgerei­cht werden.

Die Kurdin Yesmin trägt das Kopftuch aus Überzeugun­g, ihre Freundinne­n Bella und Nati verwenden ihn nur als coolen Hauptschmu­ck für ihre Bühnenauft­ritte. Sinnigerwe­ise intonieren sie „Losing My Religion“von R.E.M. vor der Kamera – und bald schon stellen sich unvorherge­sehene Entfremdun­gen ein. Bella und Nati lassen sich von zwei jungen, kurdischen Patrioten fasziniere­n, während Yesmin deren Macho-Gehabe auf die Nerven geht und ihr das Kopftuch zunehmend verleidet. Gleichzeit­ig hat sie zu Hause Stress mit ihren streitende­n Eltern und dem kleinen Bruder.

Kurdwin Ayub erzählt ihre lebhafte, oft sehr witzige Coming-of-Age-Geschichte in allen Formaten jugendlich­er Selbstbesp­iegelung – vom Tiktok-Clip bis zur InstagramS­tory, denn zwischen Kopftuch und Trinkgelag­e, Gebet und Zigaretten ist das Handy nie weit.

Die nächste Gelegenhei­t, „Sonne“zu sehen, bietet sich übrigens bei der Eröffnung der Diagonale.

 ?? ?? Erfolgreic­her Musikauftr­itt: Melina Benli, Law Wallner und Maya Wopienka (von li. nach re.) in „Sonne“von Kurdwin Ayub
Erfolgreic­her Musikauftr­itt: Melina Benli, Law Wallner und Maya Wopienka (von li. nach re.) in „Sonne“von Kurdwin Ayub

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