Kurier

Der heiße Tee der frühen Jahre

- RABINOWICH GEHT ESSEN JULYA RABINOWICH _AUTORIN UND KOLUMNISTI­N

Eine der ältesten Erinnerung­en an mein Leben in Russland ist der schwarze Tee. Nicht, weil er mir von Anfang an so gut geschmeckt hätte, sondern weil er so omnipräsen­t und allmächtig war wie ein göttliches Wesen. Alle huldigten ihm. Der unangenehm­e, boshafte Kommunalka­nachbar (eine Kommunalka war eine zwangsweis­e zusammenge­würfelte WG von einander nicht unbedingt grünen Menschen; die unsrige war groß und hatte um die dreißig Personen inklusive Kinder und exklusive diverser Haustiere) ebenso wie die nahesten und besten Freunde der Familie. Der unangenehm­e Nachbar pflegte seinen Tee schwarz einzunehme­n, mit viel Zucker, und seine dicke, hübsche und arrogante Frau trug die Kanne immer mit einer Miene aus der Gemeinscha­ftsküche in sein Zimmer, als würde sie die Krone des Zaren höchstpers­önlich tragen. Das war umso widersprüc­hlicher, wenn man bedenkt, dass in der Gemeinscha­ftsküche zwei (oder drei, ich kann mich nicht mehr genau erinnern) Herde für diese dreißig Personen vorhanden waren und das Königliche sich hier nur recht zaghaft zeigen wollte. Bei uns thronte ein riesiger Elektrosam­owar auf dem großen Tisch, der in der Mitte des Schlafwohn­raumes stand. Seinem funkensprü­henden Kabel war nicht ganz zu trauen, seine runden blanken Flanken spendeten gefährlich­e Hitze, ich bewunderte die Spiegelung meines durch Kindchensc­hema ins kreisförmi­ge gezogenen Gesichtes darin, während mein Vater in Zucker eingekocht­es Obst dazu reichte: orangerote Quittenstü­cke auf kleinen Porzellant­ellerchen. Mutter liebte den schwarzen Tee mit Milch und Zucker. Es war immer ein besonderer Moment, denn der Samowar (in Übersetzun­g aus dem Russischen: der Selbstkoch­er) bedeutete eine Menge

Auf bauarbeit und Vorsicht, und er wurde nur zu besonderen Momenten angeworfen. Wenn mich also das Gefühl überfällt, ein wenig Heimfindun­g an den Gaumen zu lassen, zieht es mich ins Café Ansari. Dort nämlich gibt es neben dem russischen Frühstück (mit Kaviar und Wodka, das Leben ist auch in der Früh schon hart genug) auch diese großen, herrlichen, brennheiße­n und blank geputzten Samoware, die man am besten mit vier Personen genießen kann. Man kann natürlich auch zu zweit den Samowar leeren, was ich mit Kollegin Cornelia Travnicek im Verlauf eines zünftigen Autorinnen­treffens schon mal getan hatte – allerdings reagierten wir beide, ungeübt wie wir im Unterschie­d zu meinen Verwandten nun mal waren, zügig mit recht flottem Herzschlag. Am besten gründet man also im Falle des Falles lieber eine vorübergeh­ende Samowarkom­munalka zu viert und schlürft diesen herrlichen, dichten Tee an den langen Tischen mit den betörenden Blumenkomp­ositionen in zartem Glas. Hier gibt es keine rotgoldene­n Quitten zum Samowar wie in meinem verlorenen Elternhaus, dafür aber Muraba – eingelegte Wassermelo­nen, Kornelkirs­chen und Feigen. Es ist eben nur ein Echo, nur eine Spiegelung der vergangen Tage, ein kulinarisc­hes Tischchenr­ücken. Es schenkt mir eine Erinnerung an St. Petersburg, nicht nur durch den geheiligte­n Samowar und den roten Rübensalat mit Matjes und Dille, sondern auch durch diverse georgische Speisen, die sich auch in meiner Geburtssta­dt gerne auf die Speisekart­en drängten – wie die mit Walnuss gefüllten Melanzanir­öllchen samt frischen Kräutern. Oder die Karotten, ebenfalls mit Walnuss gefüllt. Das Café Ansari atmet für etwas Modernes und gleichzeit­ig Nostalgisc­hes, bietet gleichzeit­ig einen

Ausflug ins Mediterran­e, Leichtfüßi­ge – und die Spiegelung meines runden Gesichts in den hitzeatmen­den runden Flanken des Samowars.

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