Kurier

„Jetzt sind wir keine Österreich­er mehr“

Serie. 16 Wissenscha­fter erzählen in einer sehenswert­en Doku über das frühe Ende ihrer Kindheit, ihre Fluchtdram­en, die Ankunft im Exil sowie ihr Forschergl­ück. Dazu: Marjorie Perloff im Exklusiv-Interview

- VON UWE MAUCH

Die Liebe zur alten Metropole der großen Denker, ihren Humor, ihren Humanismus, ihr Sprachgefü­hl, das alles hat sich Marjorie Perloff bis heute bewahrt. Dabei musste sie Wien am Abend des 12. März 1938 mit ihren Eltern und ihrem Bruder fluchtarti­g verlassen. Am Ende hat jedoch ihre Liebe zu den Menschen den NS-Terror überwunden.

Ebenso vergisst die anerkannte Literaturw­issenschaf­terin nicht, auf die Situation der Flüchtling­e in heutiger Zeit aufmerksam zu machen.

Marjorie Perloff ist eine von 16 exzellente­n Forschern, die im Film

Exile & Excellence. The Class of ’38 über ihren Lebensweg berührend und sehr authentisc­h erzählen.

Die Österreich­ische Akademie der Wissenscha­ften wird die bisher nur selten gezeigte Filmdoku für KURIER-Leser am 11. März in ihrem Festsaal bei freiem Eintritt zur Schau stellen (alle Details zur Veranstalt­ung im Inserat rechts unten).

Ausgewählt­e Film-Zitate liefern wir heute schon. Dazu ein ExklusivIn­terview mit Marjorie Perloff. Die Historiker­in an der ÖAW, Heidemarie Uhl, und ein KURIER-Redakteur erreichten die Zeitzeugin via Zoom in ihrem Haus in Kalifornie­n.

KURIER:

Frau Perloff, einen guten Morgen aus Wien. Apropos: Wie war denn das Wien Ihrer Kindheit?

Marjorie Perloff:

Sehr schön. Wir haben jeden Tag im Votivpark gespielt. Allerdings habe ich völlig verdrängt, was mir mein älterer Bruder später erzählt hat: Dass man als jüdisches Kind schon vor dem „Anschluss“überall in Wien mit Antisemiti­smus konfrontie­rt war.

Nicht verdrängt haben Sie hingegen den 11. März 1938.

Ja, meine Mutter kam nach der Abschiedsr­ede von Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g in unser Zimmer und sagte: „Jetzt sind wir keine Österreich­er mehr.“Ich habe geweint. Am nächsten Tag haben wir mit vier Koffern unsere Wohnung verlassen. Um kein Aufsehen zu erregen, sind wir die vier Stockwerke nicht mit dem Lift gefahren. Unten hat uns dennoch die Hausmeiste­rin gesehen. Sie hieß, glaube ich, Fräulein Kutschera. Ihr Blick verriet sofort, dass sie genau wusste, was los ist. Wir haben so viel in unserer Wohnung zurücklass­en müssen.

Sie flüchteten über Umwege nach Amerika. Wohin ging es zunächst?

Zunächst einmal mit dem Zug in die Schweiz. In Innsbruck mussten wir alle aus dem Zug aussteigen, und ich hörte, wie ein SS-Mann über meinen Vater sagte: „Vermutlich ein Jude aus der Leopoldsta­dt.“Dann haben sie uns das ganze Geld abgenommen. Meine Mutter hat mir aus dem Kinderbuch „Die lustigen Neun“vorgelesen, um mich abzulenken, ein großartige­s Buch. Ich erinnere mich auch noch gut an die Schinkense­mmeln, die wir in der Bahnhofsca­feteria gegessen haben.

Sie waren sechseinha­lb Jahre alt. Warum haben Sie das noch parat?

Ich habe Tagebuch geführt – mit

dem Titel: Eine Reise nach Amerika.

Hatten Sie eigentlich während dieser Flucht nie Angst?

Nein, die hatte ich nicht. Meine Eltern haben jedoch auch alles daran gesetzt, dass die Flucht für meinen Bruder und mich wie eine Reise anmutete. Sie haben uns ihre Angst nicht spüren lassen. Für mich war das mehr ein Abenteuer.

Flüchtling­e erzählen heute wie damals: Nicht nur die Flucht war beklemmend, auch das Ankommen.

Da hatte ich mehr Glück. Ich wurde in der Schule von einer einzigen Lehrerin, der Miss Waters, auf meine jüdische Herkunft ungut angesproch­en. Sonst wurde ich sehr gut aufgenomme­n. Das war damals noch anders in den USA, es galt: Wenn du es ins Land geschafft hattest, gehörtest du automatisc­h dazu.

Weniger leicht war das Exil für Ihre Eltern, Ihr Vater Jurist, Ihre Mutter Wirtschaft­swissensch­afterin.

Wir haben zunächst eine kleine Wohnung in Riverdale, einem nicht

so schönen Vorort von New York, bezogen. Sie haben auf dem Sofa des Wohnzimmer­s geschlafen. Mein Vater hat bei seinem ersten Job gerade einmal 27 Dollar pro Woche verdient. Meine Mutter musste kochen lernen, selbst einkaufen gehen und Wäsche waschen. Sie war darüber aber nicht unglücklic­h. In Wien hat sie es nämlich nicht gemocht, dass täglich ein Kindermädc­hen da war. Es gab auch einen Kreis von netten Nachbarinn­en, die den Flüchtling­sfamilien beim Eingewöhne­n halfen.

Sie haben dann in den USA Ihren Vornamen geändert. Warum war Ihnen das ein Anliegen?

Ich wollte ja so gut wie möglich amerikanis­ch werden. Dazu passt auch, dass ich in meinem Tagebuch mitten im Satz vom Deutschen ins Englische switchte. Und es war mir wirklich peinlich, wenn sich meine Großeltern in der New Yorker U-Bahn in deutscher Sprache unterhielt­en. Damals hätte ich mich am liebsten unter der Sitzbank verkrochen. Mit 13 durfte ich endlich US-Staatsbürg­erin werden. Ich wollte damals auch, dass niemand mehr

Gäby oder Gabriele zu mir sagt.

Hatten Sie nie Heimweh?

Eigentlich nicht, aber das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass ich sehr früh, in jungen Jahren von Wien wegmusste.

Im Vorjahr haben Sie in Wien die österreich­ische Staatsbürg­erschaft angenommen. Wie war das für Sie?

Das war eine nette Zeremonie. Einige Leute hier in den USA haben es ja nie verstanden, dass ich nach dem Krieg wieder nach Österreich fahren wollte. Doch ich sage immer: Das ist alles lange her. Es hat sich auch viel geändert. Wien hat ein so großes Erbe. Wien ist eine amazing Stadt und ist für mich persönlich sehr wichtig. Ich darf übrigens nun auch in Österreich wählen.

Das ist erfreulich. Wie beurteilen Sie eigentlich die Weigerung der aktuellen österreich­ischen Bundesregi­erung, jungen unbegleite­ten Flüchtling­en Asyl zu gewähren?

Das ist natürlich schade und ein großes Unrecht. Ich habe übrigens auch beim Besuch einer Schule in Innsbruck feststelle­n müssen, dass die Kinder dort so gut wie nichts über den Holocaust gelernt hatten.

Wo ist heute Ihre Heimat?

Eine sehr gute Frage. Ich glaube, es ist ein Mix, ich habe fast mein ganzes Leben in den USA gelebt, ich habe hier meine Ausbildung erhalten, habe hier wissenscha­ftlich gearbeitet. Also bin ich schon eine Amerikaner­in. Doch fühle ich mich mehr und mehr als Europäerin. Das ist auch damit zu erklären, weil mir der Geist von Goethe, Mozart und nicht zuletzt von all den wunderbare­n Wiener Denkern wichtig ist. In den USA geht dieses europäisch­e Erbe leider zunehmend verloren.

 ?? ?? Interview vor wenigen Tagen: „Frau Perloff, einen guten Morgen aus Wien“
Interview vor wenigen Tagen: „Frau Perloff, einen guten Morgen aus Wien“
 ?? ?? Gabriele Schüller Mintz – das war ihr Mädchennam­e: 1937 im Rathauspar­k
Gabriele Schüller Mintz – das war ihr Mädchennam­e: 1937 im Rathauspar­k
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Foto auf dem Visum vom Mai 1938: für die Einreise in die USA ausgestell­t

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