Kurier

Wo ist der Chef?

Zwei Jahre Corona: Erst entschiede­n die Politiker, was zu tun ist, dann die Experten, zuletzt die Bürger. Logischer wird’s dadurch nicht

- VON GERT KORENTSCHN­IG gert.korentschn­ig@kurier.at

Dass ein Leitartike­l wie dieser heute erscheint, hätte im Februar 2020, als sich der Anlass dafür ereignete, niemand für möglich gehalten. Bereits zwei Jahre befinden wir uns in einem pandemisch­en Ausnahmezu­stand – eine Zumutung, physisch, psychisch, ökonomisch. Und politisch: Akut scheinen alle Parteien Panik vor einer Truppe von Emporkömml­ingen zu haben, deren Konzept sich in einer radikalen Anti-Haltung erschöpft. Wenn schon „MFG“, dann von den Fantastisc­hen Vier, aber nicht in politische­n Gremien.

Aktuell erstrahlt das Licht am Ende des Tunnels zwar hell wie nie zuvor, eine Garantie, dass der böse Zauber bald vorbei ist, ist das aber keinesfall­s. Trotzdem gelten ab sofort weniger strenge Maßnahmen, in zwei Wochen laufen sogar fast alle aus. Nur Wien bleibt härter, was zeigt, wie absurd die Situation längst ist – offenbar kann das

Virus Ortstafeln lesen. Wäre nicht alles so ernüchtern­d, hätten die Freiheitsr­ufe nicht von allen Seiten einen schalen Beigeschma­ck – der immer wieder abgeändert­e Maßnahmenk­atalog könnte als größtes Satireproj­ekt in die Geschichte eingehen, nicht nur in Österreich.

Welche Vorschrift­en nun sinnvoll sind (und welche überhaupt gelten), darüber herrscht Uneinigkei­t (und Ratlosigke­it). Wenden wir uns also lieber der ebenso komplexen Frage zu, wie die Entscheidu­ngsprozess­e abliefen bzw. -laufen. Zu Beginn der Pandemie (aufmerksam­e Leser werden sich an Kanzler Kurz und das virologisc­he Quartett erinnern) fällte die Regierungs­spitze die Entscheidu­ngen öffentlich­keitswirks­am und de facto selbst. Mit zunehmende­r Dauer der Krise wurde der Ruf nach Experten lauter – plötzlich war Österreich nicht nur ein Land voller Teamchefs und Operndirek­toren, sondern auch eines der Virologen.

Mit Kanzler Nehammer und der Gründung der Gecko-Kommission wurden die Entscheidu­ngen dann endgültig ausgelager­t, dadurch aber nicht klarer. Wie man’s macht, ist’s also falsch. Mittlerwei­le hat man jedenfalls das Gefühl, dass weder die Regierung noch ein Expertengr­emium die Beschlüsse fasst, sondern alles der Stimmung in der Bevölkerun­g geschuldet ist.

Der Wähler ist der Souverän – selten war dieser Spruch so richtig. Ist er für die Aufhebung von Maßnahmen, werden sie aufgehoben. Kippt die Stimmung bei der Impfpflich­t, wird sie zumindest halb gekippt und zahnlos. Allerdings resultiert diese Verlagerun­g der Macht nicht aus einem besonderen Demokratie­bewusstsei­n, sondern aus der Angst vor Wahlnieder­lagen. Corona und Populismus sind benachbart­e Viren, weder die Regierung noch die Opposition sind immun.

„Wo ist der Chef dieser seltsamen Anstalt?“, sang Franz Morak vor 40 Jahren vom Eingesperr­tsein, allerdings hinter Gittern. Die Frage per se ist aber nach wie vor angebracht, wenn die heiße Kartoffel so hin- und hergeworfe­n wird.

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