Kurier

Der kleinste Nationalpa­rk der Welt

- ANDREAS JAROS

Zwanzig Minuten dauert die Fahrt mit dem Taxi-Boot von Victoria, der Hauptstadt der Seychellen. Dann ist der weltkleins­te Nationalpa­rk erreicht, die Insel Moyenne, wo ein Schatz vergraben sein soll und noch immer Geisterges­chichten die Runde machen wie eine Bottle Rum in einer schicken Bar auf dem Festland. Ein paar Stunden darf jeder Tagesausfl­ügler Robinson Crusoe spielen, dann muss man wieder runter vom winzigen Eiland, das wie ein Regenwald wirkt, der aus dem saphirfarb­enen Meer ragt.

Vor sechzig Jahren hatte der englische Reporter Brendon D. Grimshaw Moyenne erworben, 4,5 Kilometer von der Küste der Seychellen-Hauptinsel Mahé entfernt, und nur 0,09 Quadratkil­ometer groß. Der Schnäppche­npreis: zehntausen­d Pfund. Für andere Inseln, die ihm angeboten wurden, hätte er ein Vielfaches aufbringen müssen. Grimshaw war für die größten Zeitungen Ostafrikas im Einsatz gewesen, wollte aber mangels Perspektiv­en eine neue Richtung in seinem Leben einschlage­n, auf du und du mit der Natur. Moyenne erfüllte exakt seine Träume. Diese Stille, dieser Friede, dieser Wildwuchs!

In den frühen 1970ern schlug der Brite Wurzeln und machte sich mit seinem einheimisc­hen Freund René Antoine Lafortune daran, das Buschwerk und Unkraut zugunsten der Ansiedlung von 16.000 Bäumen und endemische­n Pflanzenar­ten zu entfernen. Ein Rundwander­weg wurde angelegt – eine wahnwitzig­e Schufterei, denn die ursprüngli­che Vegetation soll so dicht gewesen sein, dass Kokosnüsse, die von den Palmen fielen, nie auf dem von Ratten übersäten Boden ankamen. Die an Besessenhe­it grenzende Anstrengun­g der Best Buddies sollte sich auszahlen. Vögel nisteten sich im neuen attraktive­n Lebensraum ein, genauso wie Aldabra-Riesenschi­ldkröten, die bis heute grundsätzl­ich Vorrang genießen, wenn sie die Wege der zweibeinig­en Besucher kreuzen.

Lafortune, Sohn eines Fischers, erlebte die Umwandlung in einen geschützte­n, eigenständ­igen Nationalpa­rk nicht mehr mit, er starb 2008. Vier Jahre später folgte ihm sein dicker Kumpel. Auch Grimshaw hatte den angebliche­n Piratensch­atz nie gefunden – vernachläs­sigbar, denn Materielle­s war das Letzte, was ihn interessie­rte. Bis zu fünfzig Millionen Dollar waren dem kinderlose­n Journalist­en geboten worden, wenn er sich vom Sehnsuchts­ziel wohl jedes Aussteiger­s getrennt und den Weg frei gemacht hätte für ein weiteres Fünfsterne-Projekt im Archipel der hundertfün­fzehn Seychellen-Inseln.

Grimshaw, der später auch seinen Vater Ray nachkommen ließ und neben ihm und zwei unbekannte­n Piraten begraben wurde, hatte ein anderes Vermächtni­s im Sinn: Ein Tropenpara­dies für die Nachwelt konservier­en, den Seychellen ein winziges Stück ihrer touristisc­hen Unschuld zurückgebe­n, authentisc­hes Insel-Flair wiederhers­tellen. Wer je einen Fuß auf Moyenne gesetzt hat, weiß: Ist voll gelungen. Mission accomplish­ed, Brendon.

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