Gedanken-Gebirge, selbst zu besteigen
Rainald Goetz’ neues, maßloses Stück „Reich des Todes“im Akademietheater. Es geht um Terror, Gewalt, Folter, Krieg und eigentlich eh alles
Zu Beginn sei eine persönliche Bemerkung erlaubt, die natürlich angesichts des Themas des Abends fast obszön wirkt: Wann haben wir verlernt, uns kurzzufassen? Ein Popsong: drei Minuten. Ein Film: 90 Minuten. Ein Theaterstück: zwei Stunden. Das war einmal.
Heute erleben wir einen interessanten Gegensatz: In den sozialen Medien kommuniziert man in Slogans, in der Kunst wuchern die Textflächen.
Manchmal geht es nicht anders: 20 Jahre lang hat Rainald Goetz, Doktor der Medizin und Geschichte, BüchnerPreisträger, an seinem Stück „Reich des Todes“geschrieben. Da braucht es halt dreieinhalb Stunden (und das ist eine gekürzte Fassung), um dieses Gedanken-Gebirge auf die Bühne des Akademietheaters zu wuchten.
Goetz geht von den Anschlägen des 11. September 2001 aus, die er als Riss in der Oberfläche der Welt auffasst, und assoziiert sich davon ausgehend kreuz und quer durch seinen beeindruckenden Schatz an Wissen.
Es geht um Folter und Menschenrechte, um Krieg und Religion, um die Legitimation von Gewalt, um Angst und Wut, um skrupellose Macht-Machos und unfähige Politiker, um KZWächter und Soldaten der napoleonischen Kriege, um viel Schuld und wenig Sühne, um Tod und das Ausbleiben der Auferstehung.
Und es geht, immer wieder, auch um die Frage: Wie soll sich das Theater, die Kunst, solchen Themen nähern, was kann das Theater überhaupt tun, ohne lächerlich zu sein?
Nur Fragen
Es ist die Qualität dieses maßlosen, ohne Vorbildung und Sekundärliteratur kaum zu fassenden Textes – der einem den sicheren Boden einer Handlung oder sich entwickelnder Personen konsequent verweigert –, dass er bei aller Gelehrtheit darauf verzichtet, Antworten zu postulieren. Er besteht nur aus Fragen.
Zwar fühlt man sich manchmal an ein philosophisches Proseminar erinnert, aber hier gibt es kein Skriptum, das man auswendig lernen kann. Ja, das ist Stoff und kann geprüft werden, aber woraus dieser Stoff besteht, muss jeder selbst herausfinden.
Regisseur Robert Borgmann hat starke Bilder gefunden – der Mann, der in den Folterkäfig steigt, die Körper, die mit Erde bedeckt werden, die Gräber, die am Ende geschaufelt werden. Manches ist aber auch einfach ein bisschen blöd: Der amerikanische Präsident trägt Cowboyhut und Strichjungen-Höschen und singt „Live Is Life“. Und manchmal ist es auch einfach: fad.
Die Darsteller – Mehmet Ateșçi, Marcel Heuperman, Felix Kammerer, Christoph Luser, Elisa Plüss, Safira Robens, Andrea Wenzl und der wie immer wunderbare Martin Schwab – geben alles.
Jubel und wenige Buhs.