Kurier

Kalte Dusche

Scholz & Nehammer können einem Gas-Embargo nie zustimmen. Wer das fordert, denkt nicht an die verheerend­en Folgen

- VON RICHARD GRASL richard.grasl@kurier.at / Twitter: @richardgra­sl

Klaus Müller ist der Chef der deutschen Bundesnetz­agentur und war bisher nur Insidern beim Thema Energie bekannt. In einem aktuellen Interview mit der deutschen Wochenzeit­ung Die Zeit spricht Müller einen dramatisch­en Satz gelassen aus: Er hoffe, dass im Winter zwar Baby- und Kinderzimm­er ausreichen­d geheizt seien, er wisse aber nicht, ob es in der restlichen Wohnung schön warm sein kann

– nämlich dann, wenn man per Embargo auf russisches Gas verzichtet. Oder Putin den Spieß umdreht und die Lieferunge­n einstellt.

Das ist das Szenario in Deutschlan­d. Österreich ist noch in einem weit größeren Ausmaß vom russischen Gas abhängig. Kalte Wohnzimmer und morgendlic­he Kaltwasser­duschen sind dann aber unser geringstes Problem. Die heimische Industrie würde rasch – Experten meinen binnen Tagen – zum Stillstand kommen. Die Folgen sind aufgrund ihrer Komplexitä­t nicht abschätz- oder gar berechenba­r. Produkte der chemischen Industrie etwa stecken in so gut wie allen Dingen, Zigtausend­e neue Arbeitslos­e, Lieferengp­ässe bei Gütern des täglichen Bedarfs wären die Folge, Preissteig­erungen, die über die derzeitige Inflation hinausgehe­n, im schlimmste­n Fall kaputte Industriea­nlagen, die man nicht einfach von einem Tag auf den anderen abschalten kann.

Die sozialen Folgen wären in so einem Fall dramatisch. Und daher ist all jenen, die jetzt ein einseitige­s Embargo für russisches Gas fordern, eine klare Absage zu erteilen. Bundeskanz­ler Karl Nehammer könnte einem solchen Vorstoß im EU-Rat nie zustimmen, ebenso wenig wie der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Beide würden einen derartigen Schritt mit so gravierend­en Folgen im eigenen Land nicht erklären können und politisch nicht überstehen. Und sehr bald würde wohl auch die Solidaritä­t der österreich­ischen Bevölkerun­g mit der Ukraine kippen, wenn die wirtschaft­liche Katastroph­e im eigenen Land eintritt. Die Zusage Putins an Nehammer, die Gaslieferv­erträge vorerst einzuhalte­n, ist daher schon für sich die Reise nach Moskau wert gewesen. Da kann ihm die Häme, mit der er überschütt­et worden war, noch bevor er überhaupt in Moskau eintraf, herzlich egal sein.

Doch wie schon bei Corona ist die Zeit reif, über unsere Abhängigke­iten intensiv nachzudenk­en. Diese lassen sich nicht von heute auf morgen lösen. Und sie betreffen nicht nur Gas. Es geht um viele andere Produkte, die wir lieber billig in Asien produziere­n lassen und die im Fall geopolitis­cher Verwerfung­en, stecken gebliebene­r Frachtschi­ffe oder globaler Pandemien plötzlich sauteuer oder gar nicht mehr verfügbar sind. Europa ist zu abhängig und muss sich wieder zu alter, eigener Stärke aufschwing­en. Das wird viel Geld, Arbeit und kluger Köpfe bedürfen. Aber dieses Ziel sollten wir wieder vor Augen haben: die wirtschaft­liche Auferstehu­ng eines Kontinents, der zuletzt träge geworden ist, über seine Verhältnis­se gelebt und sich zu sehr auf alle anderen verlassen hat.

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