Kurier

Eine Weltkunsts­chau schafft sich ab

Documenta. Die fünfzehnte Ausgabe der Großausste­llung wird im Vorfeld von Antisemiti­smusvorwür­fen, Vandalismu­s und Kritik am Konzept überschatt­et. Eine Zusammenfa­ssung zur besseren Orientieru­ng

- VON MICHAEL HUBER

Wenn die Welt nach Kassel kommt, hat das stets etwas Skurriles: Etwa, wenn beim traditione­llen Empfang des Bürgermeis­ters die Schar internatio­naler Kunst-Profis auf die städtische Blaskapell­e und das vielfältig­e Sortiment hessischer Wurstwaren trifft.

Diesmal ist die Welt noch vor dem am Mittwoch startenden Eröffnungs­reigen der documenta nach Kassel gekommen. Nicht, weil das Kuratoren-Kollektiv ruangrupa vorab Events über sein auf Freundscha­ft und Gemeinscha­ftlichkeit gebautes Konzept abhielt: Nein, die Welt kam in Form heftiger Antisemiti­smus-Vorwürfe, gescheiter­ter Vermittlun­gsversuche und zuletzt in Form eines vandalisti­schen Anschlags auf einen Ausstellun­gsort.

Morddrohun­gen

In der Werner Hilpert-Straße 22 schmierten Unbekannte in der Nacht auf den 28. Mai die Codes „187“und „PERALTA“an die Wand. „187“steht bei der kalifornis­chen Polizei für Mord – und kann als Drohung gelesen werden. „Peralta“gilt als Anspielung auf Isabelle Peralta, Leiterin einer rechtsextr­emen Jugendorga­nisation in Spanien.

Die Nerven sind entspreche­nd angespannt, selbst über eine Last-Minute-Absage wurde spekuliert. Dabei ist die Antisemiti­smusdebatt­e, die die öffentlich­e Wahrnehmun­g der alle fünf Jahre abgehalten­en, als weltweit wichtigste Kunstschau titulierte­n documenta überschatt­et, nur eine Baustelle: Auch die unaufgearb­eitete Vergangenh­eit der Schau und Kritik an ihrem Kunstbegri­ff lassen die Institutio­n wackliger dastehen als je zuvor.

Die Antisemiti­smusvorwür­fe gegen die documenta kamen im Jänner auf, als ein lokales „Bündnis gegen Antisemiti­smus“die Inklusion der palästinen­sischen Künstlergr­uppe „A Question of Funding“in die Schau kritisiert­e.

Diese würde sich in einem Zentrum in Ramallah treffen, das nach dem arabischen Nationalis­ten Khalil Sakakini benannt ist, der mit Hitler sympathisi­erte. Dem documentaK­uratorenko­llektiv wurde seinerseit­s Nähe zur BDS-Bewegung, die den Boykott Israels fordert, unterstell­t.

Zwar erwiesen sich die zentralen Anwürfe als unhaltbar, eine NS-Verbindung Sakakinis ließ sich ebenso wenig klar belegen wie eine BDS-Verbindung ruangrupas. Aber die Dinge wurden von da an nicht besser: Ein geplantes klärendes Gespräch wurde abgesagt, nachdem sich der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d unzureiche­nd eingebunde­n fühlte; der Vorwurf, dass kaum israelisch­e Kunstschaf­fende in der documenta-Auswahl vorkommen, trifft jedenfalls zu.

Wer darf definieren?

Das aus Indonesien stammende Kuratorent­eam klagte wiederum, dass der Antisemiti­smusvorwur­f mit rassistisc­hem Unterton gegen sie als Vertreter des „globalen Südens“geführt wurde. Die Debatte rührt also am Kern der Gedenkkult­ur: Wer darf in Deutschlan­d 2022 definieren, was antisemiti­sch ist?

Der mutmaßlich von Rechtsextr­emen verübte Anschlag auf genau jenen Ausstellun­gsraum, der für das kritisiert­e Kollektiv „A Question of Funding“vorgesehen war, holte die Debatte wieder auf das lokale Niveau zurück – und machte den zweiten wunden Punkt der Veranstalt­ung offensicht­lich: Denn zwischen dem altehrwürd­igen Museum Fridericia­num, dem Gedenkmuse­um der Gebrüder Grimm und zahlreiche­n Orten in Industrieb­rachen der hessischen Kleinstadt werden regelmäßig die großen Themen verhandelt, ohne dass dabei das Bewusstsei­n entsteht, dass diese die Menschen vor Ort wirklich betreffen. Wobei schon der Mord am Türken Halit Yozgat durch den „nationalso­zialistisc­hen Untergrund“(NSU) im

Jahr 2006 ein Weckruf hätte sein können.

Abstrakt global

„Eine möglichst abstrakte Anrufung des Globalen ersetzte weitgehend eine Auseinande­rsetzung mit Deutschlan­ds Gegenwart und Vergangenh­eit“, erklärte die Künstlerin Hito Steyerl jüngst in einem Vortrag, den sie in der abgesagten Diskussion­srunde der documenta nicht hielt und stattdesse­n in der ZEIT publiziert­e.

Der Blick aufs Anderswo ist tief in der DNA der „Weltkunsts­chau“verankert – wurde sie doch 1955 nicht zuletzt zur Imagepolit­ur Deutschlan­ds gegründet: Die „Täternatio­n“

sollte nach dem Krieg zum Schauplatz der westlichen Moderne werden.

Wie eine Ausstellun­g des Deutschen Historisch­en Museums 2021 darlegte, übersah man dabei, dass Werner Haftmann, Kunsthisto­riker und Ideengeber der ersten documentas, nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern auch SA-Mann gewesen war. Er propagiert­e Abstraktio­n in der Kunst als Ort des Neustarts – der Künstler als Seher, der über dem Gerangel der Welt steht, sollte den Weg weisen. Den Nachhall dieser Idee konnte man noch in Joseph Beuys’ Eichenpfla­nzungen (documenta 7, 1982) oder der 1992 aufgestell­ten „Himmelsstü­rmer“-Skulptur von Jonathan Borofsky vernehmen. Vor allem aber feierte die documenta Kunst als Leistung des Individuum­s – wobei diese Idee spätestens bei der 12. Ausgabe, bei der auch Tiere und Pflanzen kreative Rollen spielen durften, zu bröckeln begann.

In der Scheune

Wie anders ist nun das Kunstverst­ändnis, das ruangrupa propagiert: „lumbung“heißt die zentrale Metapher, sie bezeichnet eine Reisscheun­e, in die Bauern Produktion­süberschüs­se geben und das, was sie selbst brauchen, herausnehm­en. Die geladenen Künstler sind großteils Kollektive, statt Herkunftsn­ationen werden nur Zeitzonen genannt.

„Das ist das Ende der documenta“, wetterte Bazon Brock, lange eine prägende Figur in Kassel, zuletzt im KURIER-Interview: Die „Diktatoren der kulturelle­n Identität“würden über Individual­leistungen triumphier­en. Zugleich lässt ruangrupa – etwa mit seinem Engagement für nachhaltig­e Organisati­on und die Einbindung des Publikums – auch vermuten, dass die fünfzehnte documenta vieles richtig machen könnte. Als Feierstund­e für den Westen hat die Kunstschau in Kassel aber wohl ausgedient.

 ?? ?? Ein Kunstwerk ist schon fertig installier­t: Der Zeichner Dan Perjovschi protestier­t am Friedrichs­platz gegen den Krieg
Ein Kunstwerk ist schon fertig installier­t: Der Zeichner Dan Perjovschi protestier­t am Friedrichs­platz gegen den Krieg

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