Kurier

Londons Tauziehen um sieben Migranten

Regierung hält trotz Urteils an Abschiebun­gen nach Ruanda fest

- VON IRENE THIERJUNG

444 Menschen haben am Dienstag versucht, illegal nach Großbritan­nien zu gelangen; sie wurden im Ärmelkanal aufgegriff­en. Ähnlich erging es einen Monat zuvor einem 54-jährigen Iraker, dessen Fall nun europaweit für Aufsehen sorgt: K. N. ist einer von sieben Migranten, die die britische Regierung am Dienstag nach längerem juristisch­en Tauziehen nach Ruanda ausfliegen wollte. Dort sollten die Männer gemäß eines umstritten­en Abkommens mit Kigali vom April (siehe rechts) um Asyl ansuchen – und zwar um Asyl in Ruanda, nicht in Großbritan­nien.

In praktisch letzter Minute stoppte der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) den Abflug der Maschine, nachdem N. mithilfe von Anwälten in Straßburg Klage eingereich­t hatte. Der Mann dürfe erst nach einem abschließe­nden Urteil der britischen Justiz abgeschobe­n werden, befanden die Richter. Ein Entscheid des Obersten Gerichtsho­fs in London über die Rechtmäßig­keit des Asylpakts mit Ruanda wird Ende Juli erwartet.

Nichtsdest­otrotz hatte das Höchstgeri­cht am Dienstag grünes Licht für die ersten Abschiebun­gen gegeben, deren Zahl angesichts der vielen Verfahren von 30 auf sieben gesunken war. Sollte der Pakt nicht halten, hieß es, könnten die Betroffene­n ja zurückkehr­en. Der EGMR zog dies in Zweifel – und schritt ein.

Europarat

Großbritan­nien ist an das Urteil des EGMR gebunden, da der Gerichtsho­f auf Grundlage der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion geschaffen wurde. Er ist keine Institutio­n der EU, sondern des Europarats, dem 46 Länder angehören (bis kurz nach Beginn des Ukrainekri­eges zählte auch Russland dazu).

Die EGMR-Richter wiesen in ihrer Urteilsbeg­ründung im Fall N. darauf hin, dass die UNO Zweifel an der Fairness der Asylverfah­ren in Ruanda geäußert habe und dass es umstritten sei, ob das autoritär regierte, dicht besiedelte und bitterarme Land ein sicheres Drittland ist. Die Gegner des Asylpakts – zu denen neben NGOs, mehreren UNOrganisa­tionen und den britischen Kirchen auch Thronfolge­r Charles zählt – weisen auf diese Probleme seit Wochen hin. Dementspre­chend glücklich feierten viele von ihnen am Mittwoch den EGMR-Entscheid, auch wenn er nur ein Etappensie­g ist. „Wir sind so erleichter­t“, sagte etwa Clare Moseley von der Stiftung Care4Calai­s. Andere von Abschiebun­g bedrohte Migranten könnten nun ähnliche Einwände wie der Iraker K. N. erheben.

Neuer Abflugterm­in

Die britische Regierung zeigte sich unbeeindru­ckt von derartigen Aussagen. Man arbeite bereits an einem neuen Abflugterm­in, sagte Arbeitsmin­isterin Therese Coffey, die Berichte dementiert­e, wonach London die Anerkennun­g der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion überdenken könnte. Auch die Regierung in Kigali zeigte sich entschloss­en, den Pakt mit London umsetzen zu wollen. Man könne Zehntausen­de Menschen aufnehmen, hieß es.

Nach Ansicht Londons soll die Möglichkei­t, am Ende in Ruanda zu landen, Migranten davon abhalten, sich mithilfe von Schleppern auf den Weg nach Großbritan­nien zu machen – und den Menschenhä­ndlern so das Handwerk legen. Experten halten das allerdings für fraglich. Die Zahl der Migranten, die in wackeligen Booten oder festgeklam­mert an Lkw den Ärmelkanal überqueren, ist seit Bekanntgab­e des Deals nicht merklich gesunken und hat am Dienstag gar den höchsten Wert seit zwei Monaten erzielt.

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Keine Auslagerun­g nach Ruanda, fordern Gegner des Pakts mit Blick auf Asylsuchen­de

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