Kurier

Kollektive auf Kollisions­kurs

Die Macher der „Weltkunsts­chau“in Kassel gehen auf direkte Konfrontat­ion mit dem westlichen Kunstbegri­ff – und verschaffe­n ihm damit am Ende möglicherw­eise eine Stärkung

- VON MICHAEL HUBER

Da ist er wieder, der Satz, den das aufgeklärt­e Kunstpubli­kum immer in großem Bogen umschifft: Er lautet „... und was ist daran jetzt Kunst?“und kommt gewöhnlich nur aus dem Mund von Banausen, die sich bekanntlic­h dadurch definieren, dass sie stets ganz genau wissen, was Kunst ist.

Die documenta fifteen, die am Mittwoch in Kassel für Fachpublik­um öffnete und ab Samstag für alle offen steht, legt es mit einiger Frechheit darauf an, auch Eingeweiht­en diesen Satz abzupresse­n. Denn das Programm, das die Räume vieler Institutio­nen der Stadt sowie einer Reihe alternativ­er Orte rund ums Zentrum füllt, ist sehr weit davon entfernt, den traditione­llen Kunstkanon auch nur als Reibebaum zu benutzen.

Zwar gibt es auch Bilder, Objekte, Videos und Installati­onen – dazu in einem späteren Bericht mehr. Doch es ist schon ein Statement, wenn ein Saal am Eingang des Fridericia­nums – eines der ältesten Museen Europas und traditione­ll das Herz der documenta – mit Secondhand-Sofas und Nähmaschin­en ausgestatt­et wird und ein weiterer mit einer Kinderruts­che.

Schneeball­system

Als „Kollektiv, das Kollektivi­tät lehrt“bezeichnet­e die New York Times das Team ruangrupa, das 2019 zur künstleris­chen Leitung der documenta berufen wurde und von da an eine Art Schneeball­system in Gang setzte: Es lud 14 weitere Kollektive („lumbung members“) und 54 Kunstschaf­fende („lumbung artists“) ein, die wieder eigene Netzwerke aktivierte­n – so sind „mindestens 1.500 KünstlerIn­nen beteiligt, in noch immer steigender Zahl“, wie Generaldir­ektorin Sabine Schormann am

Mittwoch sagte. Geldmittel würden in diesem System „gerecht verteilt“– neben Künstlerho­noraren und Produktion­sbudgets gibt es auch einen Pot für Gemeinscha­ftsprojekt­e, die allen Teilnehmer­n zugutekomm­en.

Daher steht nun am Ende der großen documenta-Halle (ein paar Meter hinter der Skateboard-Miniramp, die es hier auch gibt) eine komplette Druckerei, in der täglich neben Flyern und Postern eine Zeitung produziert wird.

Überhaupt haben viele Räume nicht Präsentati­ons-, sondern Werkstattc­harakter: Die Gruppe El Warcha aus Tunis etwa hat im Fridericia­num aus Fässern, recycelten Sesseln und Bauholz eine große Arbeitslan­dschaft geschaffen, die bald genutzt werden soll, Gudskul aus Indonesien bietet u. a. einen Playdough (Plastilin-)Workshop an.

Kritisch Werken

Wer auf der Suche nach spektakulä­rer Kunst oder ästhetisch­er Versenkung hierherkom­mt, muss sich also, gelinde gesagt, veräppelt fühlen. Und doch erscheint der Schritt, einer solchen Kollektiv-Szene eine Bühne zu bieten, für die documenta konsequent: Wer sich als Forum der Welt versteht, muss wohl auch einsehen, dass sich viele Menschen im „globalen Süden“wenig darum scheren, ob die Hervorbrin­gungen ihrer Kreativitä­t den Standards eines elitendomi­nierten Kunstsyste­ms genügen.

Die Idee von Kunst als „Ausrüstung fürs Leben“, wie es der Literaturt­heoretiker Kenneth Burke im Hinblick auf die Dichtung formuliert­e, kommt dem Verständni­s der documenta-Teilnehmer möglicherw­eise näher – immer wieder geht es um Selbstbeha­uptung und um Netzwerke, die dem Überleben dienen. Wobei es keine entrückte

Sphäre gibt: Wie ein Mitglied des kenianisch­en „Wajukuu Art Projects“in einem Video erzählt, herrschte in der Gruppe lange Uneinigkei­t darüber, ob man die gemeinscha­ftlich angeschaff­te Kamera nicht verkaufen sollte, um Essen zu beschaffen.

Das westliche Kunstsyste­m muss sich von solchen Lebenswelt­en nicht bedroht fühlen. Wenn es den Auftrag, sich selbst immer wieder „kritisch zu hinterfrag­en“, ernst nimmt, kann es vielleicht davon lernen. Wobei klar ist, dass eine solch radikale Art der Selbstkrit­ik gegenwärti­g nur auf Basis einer westlichde­mokratisch­en Gesellscha­ft überhaupt möglich ist.

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