Kurier

EU-Beitrittsk­andidat Ukraine?

Interview. Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg über die EU-Beitrittsw­ünsche der Ukraine, seinen Vorschlag eines Stufenplan­s und Russlands Störpotenz­ial auf dem Balkan

- INGRID STEINER-GASHI

Für heute, Freitag, wird erwartet, dass die EU-Kommission den Vorschlag machen wird, der Ukraine eine klare Beitrittsp­erspektive zu geben. Die EU-Staats- und -Regierungs­chefs werden dann kommende Woche auf ihrem Gipfel (23./24.) darüber beraten. Die Entscheidu­ng, ob die Ukraine Beitrittsk­andidat wird, muss einstimmig getroffen werden.

Für die Ukraine könnte heute die Tür Richtung EU-Beitritt aufgehen. Heute soll sie kommen, die Empfehlung der EU-Kommission, ob die Ukraine Kandidaten­status erhalten soll oder nicht. Das letzte Wort darüber aber haben die Staatsund Regierungs­chefs eine Woche später beim EU-Gipfel. Dort sind die Meinungen geteilt. Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg erklärt, warum die EU ihren Blick trotz des Krieges nicht nur auf die Ukraine richten sollte.

KURIER: Die osteuropäi­schen Länder fordern vehement den Kandidaten­status für die Ukraine. Österreich ist da viel zurückhalt­ender. Warum eigentlich?

Alexander Schallenbe­rg: Wir sind nicht zurückhalt­end, sondern weisen darauf hin, dass wir in unserer Nachbarsch­aft eine geopolitis­che Verantwort­ung tragen, die über die Ukraine hinaus geht. Und zweitens: Geht es hier nur um Symbolpoli­tik? Was geschieht danach? Wir wollen Moskau ja das Signal geben, dass die Ukraine zur europäisch­en Familie gehört. Da muss man überlegen, ob man mit einem Symbolakt wie dem Kandidaten­status das Auslangen findet.

Soll es ein Junktim geben? Ein Ja zum Kandidaten­status der Ukraine nur, wenn auch die Staaten des Westbalkan­s näher an die EU herangefüh­rt werden?

Wir dürfen nicht in einen geostrateg­ischen Tunnelblic­k verfallen, sondern müssen auch in den Südosten Europas schauen. Wir müssen aufpassen, welche Signalwirk­ung wir setzen – nämlich den Eindruck vermeiden, da stünden die einen Länder auf dem Pannenstre­ifen, und das schon seit Jahren, und die Ukraine zieht an ihnen vorüber. Es darf keine Beitrittsk­andidaten erster und zweiter Klasse geben. Nordmazedo­nien ist schon seit 17 Jahren Beitrittsk­andidat, hat für die Annäherung an die EU sogar seinen Namen geändert. Und noch immer wartet es auf den Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en. Wir sind jedenfalls dafür, dass wir den Balkan auf dieser Reise mitnehmen.

Also doch ein Junktim?

In gewisser Weise schon. Der Balkan ist nicht der Hinterhof, sondern der Innenhof der Europäisch­en Union. Wir dürfen nicht auf einem Auge blind sein. Russland hat auch außerhalb der Ukraine die Möglichkei­t, ein Störfaktor zu sein. Es könnte, auch nur ohne einen Schuss abzugeben, für Unruhe auf dem Balkan sorgen. Darum liegt es in unserem Interesse, die gesamte Nachbarsch­aft mitzudenke­n.

Warum ist es undenkbar, der Ukraine keine Annäherung an die EU anzubieten?

Wir befinden uns hier in einer systemisch­en Rivalität. Russland hat mit seinen brutalen Angriff auf die Ukraine, nicht nur einen souveränen Nachbarsta­at angegriffe­n, sondern alles, was wir an Sicherheit­sarchitekt­ur seit dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgebaut haben, mit Füßen getreten. Wir können nicht einfach zuschauen, wie ein anderer Staat glaubt, mit Panzern und Raketen nicht nur seine Grenzen zu verschiebe­n, sondern auch unser Lebensmode­ll, unsere Standards zu attackiere­n. Was war eigentlich der Akt der Aggressivi­tät, den die Ukrainer gesetzt haben sollen? Naja, dass sie ein demokratis­cher Staat sind und sich immer mehr in Richtung Europa orientiert haben. Das wurde vom Präsidente­n der Russischen Föderation als Aggression gewertet.

Was hat die Ukraine davon, EU-Kandidaten­status zu erhalten? Sie wird lange in einem Art Vorraum zur EU sitzen …

Den Ukrainern ist klar, dass ein Beitritt noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in der Zukunft liegt. Beim EU-Gipfel wird es deshalb jetzt nicht darum gehen, dass sie Mitglied werden, sondern es geht um ein geopolitis­ches Signal. Präsident Selenskij und die Ukrainer werden es als einen Schub verstehen. Aber die Europäisch­e Union unterstütz­t die Ukraine schon jetzt massiv, wir haben 9 Milliarden Euro an Hilfen zugesagt. Und zum ersten Mal haben wir eine Rote Linie überschrit­ten – und finanziere­n als EU die Lieferung von Waffen.

Um die EU-Annäherung der Balkanstaa­ten voranzutre­iben, schlägt Österreich nun eine Art Stufenplan für die Länder vor. Ist das eine Art

Umgehung des Beitritts?

Das Endziel unseres Vorschlags ist die Vollmitgli­edschaft. Aber statt wie bisher jahrelang zu warten, während in Wirklichke­it sehr wenig geschieht, schlagen wir eine graduelle Integratio­n vor. Wir warten nicht, bis alles unter Dach und Fach verhandelt ist, sondern behandeln die Staaten dort, wo sie schon die europäisch­en Standards übernommen haben, wie Mitgliedst­aaten.

Woran denken Sie dabei?

Zum Beispiel an den Bereich Energie, an die Forschung oder an transeurop­äische Netze. In die entspreche­nden Gremien könnten wir die Staaten aufnehmen. Die EU der 27 muss autark bleiben und selbststän­dig entscheide­n. Aber wer hindert uns daran, am Vormittag mit den zwei, drei betreffend­en Westbalkan-Staaten, die alle Regeln erfüllen, in einer Ratsarbeit­sgruppe zu diskutiere­n und dann unter uns 27 den Beschluss zu fassen? Es geht nur um den politische­n Willen, die Länder so zu behandeln, als wären sie in bestimmten Bereichen schon Mitgliedss­taaten.

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron schwebt etwas anders vor …

Sein Vorschlag geht in Richtung einer Europäisch­en Politische­n Gemeinscha­ft. Klingt nicht uninteress­ant, aber es ist noch nicht ganz deutlich, was damit gemeint ist. Der wesentlich­e Punkt, den ich machen will: Der Beitrittsp­rozess muss für die Menschen auf dem Westbalkan konkret werden. Sie müssen spüren, dass diese Perspektiv­e kein Papiertige­r ist, sondern dass sich tatsächlic­h etwas tut.

In den Staaten, wo seit Jahren gewartet wird, wächst der Frust. Das habe ich bei meinen Reisen in den letzten Tagen gemerkt. Bei Umfragen in Serbien ist die Meinung über die EU zum ersten Mal mehrheitli­ch negativ.

Wenn die EU alle Kandidaten aufnähme und sie 34, 35 Mitglieder hätte, was wäre das für eine Union? Wäre sie nicht manövrieru­nfähig?

Überhaupt nicht. Wir haben die institutio­nellen Voraussetz­ungen. Es ist nur eine Frage des Willens, ob man diesen Weg geht. Diese Argumentat­ion, die EU wäre manövrieru­nfähig, haben wir schon 1995 beim Beitritt Österreich­s gehört. Das trifft nicht zu. Man kann auch zu dritt manövrieru­nfähig sein, wenn man sich nicht einigt und nicht den politische­n Willen aufbringt, zusammenzu­arbeiten.

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