Keine „französische Unordnung“in der weltweiten Unordnung
Bei der Parlamentswahl am Sonntag muss Emmanuel Macron um seine absolute Mehrheit bangen
Paris. Frankreich ist bekannt als Land, dessen Verfassung dem Präsidenten viel Macht einräumt. Er ist Chef der Armee, bestimmt die großen Linien der Außen- und der Innenpolitik. Letzteres gilt allerdings nur, wenn seine Partei in der Nationalversammlung über die absolute Mehrheit von mindestens 289 der 577 Sitze verfügt.
Vor fünf Jahren gelang dies Präsident Emmanuel Macrons Partei La République en marche (LREM) quasi aus dem Stand, doch eine Wiederholung des Erfolgs ist ungewiss. Bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen an diesem Sonntag dürfte LREM zwar klar die Mehrheit erringen, aber nicht unbedingt die absolute.
Wird diese verfehlt, wäre Macron bei jedem einzelnen Gesetz auf Stimmen der Opposition angewiesen – insbesondere der konservativen Republikaner, die auch den Senat als zweite Parlamentskammer dominieren.
Beim ersten Wahlgang am Sonntag gelang der hinter Macron stehenden Bewegung „Ensemble!“(„Gemeinsam!“), zu der sich LREM mit anderen Mitte-rechts-Parteien zusammenschloss, nur ein hauchdünner Vorsprung vor dem linken Bündnis Nupes („neue soziale und ökologische Volks-Union“). Ihm gehören die Linkspartei La France Insoumise („Das unbeugsame Frankreich“), die Sozialisten, Kommunisten und Grünen an. Demoskopen zufolge dürfte die rot-grüne Allianz zwischen 150 und 190 Wahlkreise erobern – also weniger als die 289 notwendigen Sitze, um den Regierungschef zu stellen.
„Meine Vorgängerin“
Trotzdem verfolgt der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon dieses Ziel, der die aktuelle Premierministerin Élisabeth Borne bereits unbescheiden als „meine Vorgängerin“bezeichnete. Er und sein Lager versuchten, Stimmung gegen Macron zu machen, um Wähler zu mobilisieren. So behauptete Mélenchon, Macron plane eine Erhöhung der Mehrwertsteuer – wie sonst könne er die notwendigen 80 Milliarden Euro pro Jahr einsparen, um die Neuverschuldung
bis 2027 unter drei Prozent zu drücken?
„Mélenchon verbreitet Lügen über unser Programm“, schoss Premierministerin Borne zurück. Macron selbst mischte sich am Mittwoch ein und appellierte an die Wähler, ihm eine „solide Mehrheit“zu geben. „Nichts wäre schlimmer, als der weltweiten Unordnung eine französische Unordnung hinzuzufügen“, sagte der Staatschef. Seine Partei hatte sich schwergetan, eine klare Wahlempfehlung für jene Bezirke auszugeben, in denen Kandidaten der Nupes und des rechtsextremen Rassemblement National (RN) aufeinander treffen.
Erst nach einigem Hin und Her hieß es von mehreren Parteikadern, es dürfe
„keine Stimme an die extreme Rechte“gehen. Tatsächlich kann die Partei der Rechtspopulistin Marine Le Pen, die in ihrer nordfranzösischen Hochburg Hénin-Beaumont antritt, deutliche Zuwächse verzeichnen. Ihre Partei RN qualifizierte sich in 208 der 577 Wahlkreise – in fast doppelt so vielen wie vor fünf Jahren. Da sie mit wenigen Stimmenübertragungen von anderen, bereits ausgeschiedener Parteien rechnen kann, sagen ihr Demoskopen 20 bis 45 Sitze vorher. Damit könnte sie eine eigene Fraktion in der Nationalversammlung bilden, für die mindestens 15 Abgeordnete nötig sind. Über eine solche verfügte die rechtsextreme Partei seit 1986 nicht mehr.