Kurier

Die Wiege der Menschheit droht zu kippen

Äthiopien. Krisen wie der Krieg in der Ukraine oder der Klimawande­l machen Entwicklun­gsländer noch ärmer. Das ist nicht zuletzt auch eine Gefahr für Europa

- AUS ÄTHIOPIEN AGNES PREUSSER

Abiu sitzt auf einer roten Liege in einem Behandlung­szimmer in einer äthiopisch­en Klinik in Fulassa. Er ist drei Jahre und sieben Monate alt, sieht aber höchstens aus wie Zwei. Er ist viel zu klein für sein Alter, hat keine Haare und trockene Haut. Sein Blick ist apathisch und er reagiert nicht auf Winken oder Lächeln, ja nicht einmal auf Berührunge­n. Anzeichen für akute Unterernäh­rung und Dehydratio­n.

Seine Mutter musste ihn zurücklass­en, als sie einen neuen Mann geheiratet hat. Ihr Bruder hat Abiu vor zwei Jahren aufgenomme­n. Doch jetzt geht es nicht mehr. Er hat selbst sechs Kinder, die er kaum noch ernähren kann. Das Klinik-Personal sucht nun

„Jedes sechste Kind stirbt vor dem Erreichen seines fünften Geburtstag­s. Diese Zahl darf uns nicht ruhig schlafen lassen“Klaus Schwertner Wiener Caritas-Direktor

ein Waisenhaus für Abiu. „Wir fühlen uns hilflos“, sagt Schwester Soy George, die Leiterin der Klinik.

Abius Schicksal ist in Äthiopien kein Einzelfall. Der Hunger greift hier um sich. Mehr als die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist unterernäh­rt, jedes sechste Kind stirbt vor dem Erreichen seines fünften Geburtstag­es. „Diese Zahlen dürfen uns nicht ruhig schlafen lassen“, sagt Klaus Schwertner, Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien beim Lokalaugen­schein in Äthiopien – und bei Hilfsproje­kten, die von der Caritas unterstütz­t werden, wie die Klinik in Fulassa.

Krieg und Dürre

Äthiopien, das gemeinsam mit anderen afrikanisc­hen Ländern als Wiege der Menschheit gesehen wird, war schon immer ein armes Land. In den vergangene­n Monaten ist diese Wiege immer weiter in Schieflage geraten. Im Norden, in der Region Tigray, tobt ein Bürgerkrie­g und zerrüttet das Land von innen (siehe Infobox). Aber auch internatio­nale Entwicklun­gen stürzen Äthiopien weiter in die Krise.

In den Dörfern haben die Menschen zwar weder genaue Vorstellun­gen vom Krieg in der Ukraine, noch sind sie mit dem Begriff Klimawande­l vertraut. Trotzdem hat beides Auswirkung­en auf ihre Lebenssitu­ation.

Viele Hilfszahlu­ngen und Spenden aus Europa fließen nun in die Ukraine – und nicht mehr in Entwicklun­gsländer. Zugleich wird das Getreide knapper, weil die Handelsweg­e unterbroch­en sind. Die Folge: Die Preise für Brot und Getreide steigen massiv. David Beasley, Direktor des Welternähr­ungsprogra­mms (WFP) der Vereinten Nationen, habe den russischen Präsidente­n Wladimir Putin darum gebeten, den Hafen von Odessa zu öffnen, sagte er bei einer Pressekonf­erenz in der Hauptstadt Addis Abeba am Freitag – bisher erfolglos.

Der Hafen ist der größte in der Ukraine und einer der wichtigste­n im Schwarzen Meer. „Wird er nicht geöffnet, kann die Ernährungs­sicherheit nicht mehr gewährleis­tet werden und die Hungersnot wird die ganze Welt betreffen“, erklärte Beasley. Manche Experten befürchten allermassi­ve dings, dass Putin Hungerkris­en im Nahen Osten und in Nordafrika bewusst herbeiführ­en will, um mit Flüchtling­sbewegunge­n Europa zu destabilis­ieren.

Verendetes Vieh

Auf eigene Ressourcen kann man in Äthiopien kaum noch zurückgrei­fen. Dürrejahre kommen immer häufiger vor. In Meki, das drei Autostunde­n entfernt von der Hauptstadt liegt, hat es etwa seit Oktober nicht mehr geregnet. Überall schwirrt Staub in der Luft, der Boden ist komplett vertrockne­t und das Vieh ist bis auf die Knochen abgemagert – sofern es nicht schon längst verendet neben der Straße liegt.

Wenn es doch einmal regnet, kommt es zu Überflutun­gen und Erdrutsche­n. Verheerend für ein Land, in dem ein Großteil der Bevölkerun­g von Viehzucht und Landwirtsc­haft lebt. Die Regionen Gamo Gofa und Borana hat es besonders hart getroffen. Ein

Heuschreck­enschwarm hat 2019 die ohnehin schon karge Ernte zerstört. „Ich habe die Befürchtun­g, dass uns die Plage von Gott geschickt wurde“, sagt ein Dorf bewohner.

In der Region wurde ein Notprojekt von der Caritas ins Leben gerufen, das gemeinsam mit der lokalen Hilfsorgan­isation SCORE umgesetzt wird. Ein Teich wird angelegt – für die Arbeit erhält die Bevölkerun­g Geld. Gleichzeit­ig wird damit ein Wasserrese­rvoir geschaffen.

Die Wasservers­orgung ist in vielen Gegenden nicht ausreichen­d gewährleis­tet. Das beeinfluss­t insbesonde­re das Leben der Frauen: Sie sind für die Wasserbesc­haffung zuständig und müssen oft mehrstündi­ge Wege in Kauf nehmen, um es aufzutreib­en – und täglich schwere Kanister wieder nach Hause zu schleppen.

Sparen dank Eiern

Es sind einfache Dinge, die in Gamo Gofa für glückliche Momente sorgen. Sanemole, achtfache Mutter, hat im Dezember im Zuge der Nothilfe sieben Hühner und einen Hahn bekommen. In ihrem Heim – ein hölzernes Kegeldach ohne Mauern, das nur von Holzstäben getragen wird – präsentier­t sie stolz fünf Eier. Diese fünf Eier, weniger als in einer handelsübl­ichen Verpackung, lassen sie strahlen.

Sie würde sie wirklich gerne selbst essen, sagt sie, aber das komme nicht infrage. Sie wird sie auf dem Markt verkaufen, um so für ihre Familie Geld zu erwirtscha­ften. Stattdesse­n mahlt sie Mais für ein breiartige­s Abendessen, oft die einzige Mahlzeit des Tages.

Die vermehrten Dürren in Nordafrika werden sich auch

auf Europa auswirken, sollte sich die Situation nicht langfristi­g verbessern. Die Weltbank schätzt, dass 140 Millionen Menschen wegen der Klimakrise flüchten werden.

Appell an Regierung

Andreas Knapp, Generalsek­retär der Caritas für Internatio­nale Programme und damit Chef der Auslandshi­lfe, sieht darum die Politik in der Pflicht – nicht zuletzt, weil der Norden hauptveran­twortlich für die Auswirkung­en des Klimawande­ls sei. Besonders Österreich investiere zu wenig.

Zwar hat sich die Bundesregi­erung – wie andere EUStaaten – zum Ziel bekannt, 0,7 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es (BIP) für Entwicklun­gshilfe zur Verfügung zu stellen. Tatsächlic­h ist dieses Ziel in weiter Ferne. Laut OECD zählt Österreich zu den Schlusslic­htern Europas. Während Deutschlan­d im Jahr 2021 bereits 0,74 Prozent des BIPs investiert hat, sind es in Österreich nur 0,31 Prozent. „Inakzeptab­el“, sagt Knapp.

Bildung als Schlüssel

Nur Geld nach Äthiopien zu schicken, wird allerdings nicht reichen. Auch mit den Menschen vor Ort muss gearbeitet werden. Besonders Bildung steht dabei im Fokus. Offiziell gibt es zwar eine Schulpflic­ht, besonders in ländlichen Gegenden greift diese aber nicht. Viele Kinder müssen stattdesse­n in der Landwirtsc­haft helfen.

Ohne Bildung bleibt vielen Äthiopiern verwehrt, zu erkennen, dass es andere Möglichkei­ten gibt als die traditione­llen Wege. Die Frage, warum man das kaum zu erhaltene Vieh nicht aufgibt und andere Bereiche der Landwirtsc­haft ausbaut, wird in den Dörfern mit verständni­slosen Blicken bedacht.

Tiere gelten als Statussymb­ole. Je mehr Rinder man hat, desto angesehene­r ist man.

Die 14-jährige Galmo hat das Privileg, in die Schule gehen zu dürfen. Sie trägt eine blaue Schulunifo­rm und hat gelernt, Erwachsene­n nicht in die Augen zu sehen – aus Respekt. Ihre Lehrer sagen, sie sei sehr klug. Nach der Schule will sie ihr Land verändern, sagt sie. Die Dürre habe gezeigt, dass es immer schwerer werde, mit der Viehzucht zu überleben. „Nur noch wenige Kühe sind übrig.“Auch ihre Familie sei davon betroffen.

Die Österreich­erinnen und Österreich­er können mit Spenden die Situation erleichter­n, sagt Schwertner. Er sei oft mit der Aussage konfrontie­rt, dass diese nur ein Tropfen auf dem heißen Stein seien. „Das stimmt nicht. Jede Spende kann ein Kind satt machen“, sagt Schwertner. Schon 30 Euro ermögliche­n einem äthiopisch­en Kind wie Galmo ein Semester lang ein warmes Mittagesse­n in der Schule.

Galmo selbst will Ärztin werden und Vorreiteri­n sein. In ihrer Gegend gibt es noch keine Frau, die diesen Beruf ausübt.

Vielleicht wird sie es ja sein, die in Zukunft Kinder wie den dreijährig­en Abiu vor dem Verhungern rettet.

Spendenkon­to der Caritas:

Erste Bank

BIC: GIBAATWWXX­X IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560, Kennwort: Hungerhilf­e

„Wenn der ukrainisch­e Hafen in Odessa nicht geöffnet wird, wird die Hungersnot die ganze Welt betreffen“ David Beasley Welternähr­ungsprogra­mm

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Im Zuge eines Notprojekt­s hat Sanemole Hühner erhalten, die Eier verkauft sie am Markt
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Abiu ist unterernäh­rt. Seine Familie muss ihn abgeben, damit er überleben kann
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In Gamo Gofa wurde ein Teich angelegt. Die Schulkinde­r, darunter Galmo (re.), wollen Ärzte werden
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