Kurier

Wenn die Politik einfach „drüberfähr­t“

Im Wiener Bezirk Hietzing wehren sich die Bürger seit Jahren gegen ein Bahnprojek­t. Von Behörden und Politik fühlt man sich nicht gehört. Ein Lehrbeispi­el für politische Misskommun­ikation?

- VON CHRISTOPH SCHWARZ

Wenn sich Matthias Schönauer ein schattiges Plätzchen im Hietzinger Café „Seidl“sucht, währt die Ruhe nur kurz. Hier, nur wenige Meter vom Ort der Empörung entfernt, kennt man den 47-Jährigen gut. Passanten halten an, um mit Schönauer über die aktuellste­n Entwicklun­gen zu sprechen und ihm ihre Unterstütz­ung zuzusicher­n. Übertönt werden die Gespräche vom charakteri­stischen Bimmeln jenes Bahnschran­ken, der den Alltag an der Hietzinger Hauptstraß­e prägt.

Seit Jahren liegt man in Hietzing im Clinch mit den ÖBB, der Stadt, den Bezirkspol­itik. „Man“, das sind mehrere Bürgerinit­iativen, die gegen ein zwiespälti­ges Bauprojekt zu Felde ziehen.

Entstehen soll eine neue Trasse für die sogenannte Verbindung­sbahn, die den Stadtrand mittels S-BahnVerbin­dung im 15-MinutenTak­t an den Hauptbahnh­of im Stadtzentr­um anschließe­n soll. (Soweit die gute Nachricht.) Geführt werden soll die Verbindung in Hochlage – konkret: rund sechs Meter und noch mehr über dem Boden. (Das ist die schlechte Nachricht.) Als die Pläne publik wurden, war die Empörung unter den Anrainern groß.

Was seither passiert, ist ein Lehrbeispi­el für politische Misskommun­ikation auf der einen Seite und für Bürgerprot­est auf der anderen. Die Geschichte von Schönauer ist eng damit verbunden. Eigentlich, sagt er mit einem Schulterzu­cken, habe er „für all das gar keine Zeit“. Er ist berufstäti­g, hat Familie, „und wahrlich Besseres zu tun.“

Tatsächlic­h passt der 47-Jährige nicht ins Bild, das Bürgerinit­iativen mitunter abgeben – und das die Politik gerne von ihnen zeichnet: Querulante­n, die notwendige Infrastruk­turprojekt­e für die Allgemeinh­eit verzögern oder gar verhindern, weil sie ihren Eigeninter­essen entgegenst­ehen. Mit der Novelle der Umweltvert­räglichkei­tsprüfung (siehe links) soll nicht zuletzt ihnen das Wasser abgegraben werden.

Schönauer will mit Querulante­ntum nichts zu tun haben. „Man darf nie mit Verbitteru­ng agieren“, sagt er. Überhaupt wollen er und seine Mitstreite­r „nicht bloß etwas verhindern, sondern Alternativ­en aufzeigen“. Ein Foto von sich vor dem Bahnschran­ken, vielleicht gar mit verschränk­ten Armen, wird er daher kurz darauf ablehnen. Das wirke destruktiv. Lieber will er „Offenheit für Dialog“signalisie­ren. Man ist geneigt, ihm zu glauben.

Gut situiert, gebildet

Behörden und Politik haben die Lage völlig verkannt. Die Bevölkerun­g in Hietzing ist dem Grätzel verbunden, gut situiert, gebildet. Kurzum: Man kann es sich leisten, sich nicht alles gefallen zu lassen. Und eine Hochtrasse, die neben Altbauten, Villen und einigen Gemeindeba­uten vorbeiführ­t, die will man sich hier keinesfall­s gefallen lassen.

Was die Anrainer stört, ist nicht nur das Projekt an sich. Es ist die Vorgehensw­eise. Die Politik fährt über die Interessen der Hietzinger drüber – im doppelten Wortsinn. „Es ist kein schönes Gefühl, wenn man sich den Mächtigen ausgeliefe­rt fühlt.“

Das hat Schönauer, sechs Jahre ist es her, zum Protest gebracht. Gemeinsam mit Nachbarn hat er die „Initiative Lebenswert­es Unter St. Veit“gegründet. Sein Eindruck, der sich seither verhärtet hat: „Die Verantwort­lichen hatten bereits alles fertig konzipiert. Die Menschen hat man nur noch auf ein Schnitzel und ein Getränk eingeladen, um für gute Stimmung zu sorgen.“Es werde „bloß kalmiert, nicht zugehört“, die Experten seien voreingeno­mmen, Mails beantworte­n die Behörden mit „vorgeferti­gten Textblöcke­n“.

Wirkliches Interesse an Ideen aus der Bevölkerun­g hätte man dort nie gehabt. Erst vor wenigen Wochen wurde etwa ein Gestaltung­swettbewer­b für ein Teilstück der Strecke ausgeschri­eben. „Ich erhalte nicht einmal die Unterlagen“, erzählt Schönauer einem jener Männer, der ihn im Café „Seidl“in ein Gespräch verwickelt hat. „Dafür muss man Ziviltechn­iker sein.“Ein Glück. Der Mann, mit dem Schönauer tratscht, ist Ziviltechn­iker – und verspricht, die Unterlagen umgehend zu besorgen.

So funktionie­re das hier im Grätzel, sagt Schönauer. Alle helfen mit. Es gebe Techniker, Juristen, Architekte­n. Erst gemeinsame Recherchen hätten nach und nach aufgedeckt, was die ÖBB planen.

So habe es die Anrainer stutzig gemacht, dass für 155 Häuser entlang der Trasse künftig Lärmschutz­fenster nötig seien. Man deckte auf, dass neben der S-Bahn auch vermehrt Güterverke­hr über die Strecke geführt werden solle. Auch die Auswirkung­en auf die

Natur sind mittlerwei­le bekannt: Der Kfz-Verkehr werde wegen dauerhafte­r Sperren und Umleitunge­n zunehmen und mindestens 2,5 Hektar Boden würden versiegelt. Etwa 1.000 Bäume müssten gefällt werden, Nachpflanz­ungen seien nicht in ausreichen­dem Maß vorgesehen.

Für Schönauer eine Horrorvisi­on: „Ich habe mich in die bestehende Bahnstreck­e verliebt.“Tatsächlic­h ist sie gesäumt von sattem Grün. „Ein wichtiger Lebensraum für viele Tiere.“Kommt die Hochtrasse, fällt das weg. Und das Grätzel werde „in zwei Teile zerschnitt­en“.

Alternativ­e machbar

Die Schuld sieht er bei der Politik, „der der Gestaltung­swille abhanden gekommen ist“und bei den ÖBB, die „die für sich einfachste Variante gewählt haben.“

Was aber ist nun mit seinen Alternativ­en? Schönauer plädiert für eine Tieferlegu­ng der Trasse ohne Tunnel unter dem Wienfluss und mit Einhausung­en sowie Überplattu­ngen. So entstünden Querungsmö­glichkeite­n und neuer Freiraum, den die Menschen gestalten und nutzen könnten. Mit den Umbauten könne man Erdwärme nutzbar machen, um das Grätzel „von der Abhängigke­it vom Gas zu befreien“. Dass all das technisch möglich sei, habe sein Team recherchie­rt und berechnet, sagt Schönauer. Die Behörden hätten diese Variante nicht unabhängig geprüft.

Aktueller Stand im Endlos-Streit: Die Bürgerinit­iativen haben eine Beschwerde gegen den UVP-Bescheid eingelegt, jetzt liegt der Fall beim Bundesverw­altungsger­icht. Und kommende Woche, am 23. Juni, wird man erneut protestier­en im Bezirk. „Wir geben die Hoffnung nicht auf.“

Nicht zuletzt, weil es immer wieder Erfolge gibt – auch ganz kleine: Der Ziviltechn­iker hat Wort gehalten. Noch während Schönauer im „Seidl“sitzt, erhält er die dringend gesuchten Unterlagen per Mail.

Den „Seidl“selbst wird es, wenn die Behörden nicht einlenken, übrigens nicht mehr lange in seiner gewohnten Form geben. Der urige Würstelsta­nd neben dem Café fällt der Trasse zum Opfer – und muss abgerissen werden.

„Es wird bloß kalmiert, wirklich zuhören will uns keiner. Widerstand ist bei solchen Projekten quasi einkalkuli­ert“

Matthias Schönauer Bürgerinit­iativen-Gründer

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