Kurier

Die beste Zeit zu leben? Jetzt!

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Was ist die beste Zeit zu leben? Auch so eine dieser typischen Fragen, mit denen man Schüler bei Deutschsch­ularbeiten martert.

Dabei sollten nicht die U(nter)-20 oder die U-40, 50 darüber nachdenken, sondern unbedingt wir, die Ü(ber)-60. Und als Ü-70 habe ich da eine Antwort parat: Die schönste Zeit zu leben? Jetzt! Ich bin kein Berufsopti­mist, der alle Widrigkeit­en des Hier und Heute gesundbete­n will. Natürlich konsumiere ich auch Nachrichte­n und sehe an den Schreckens­bildern, womit die tapferen Ukrainer ihren Kampf für ihre und unsere Freiheit bezahlen. Aber die Einigkeit des Westens gegen den Wahnsinnig­en im Kreml lässt hoffen. Natürlich gehe ich auch einkaufen und öffne Kuverts mit Strom- und Gasrechnun­gen: Ja, wir haben eine hohe Inflation, erstmals seit den 70er-Jahren, aber anders als damals ist ihr Ende absehbar. Ja, die Pandemie hat das Leben verändert, aber die Wissenscha­ft gibt uns Schutz vor ihren Schrecken. Ja, das Klima verändert sich – aber noch nie gab es die technische­n Fähigkeite­n, uns vor den bösen Folgen zu schützen, bis der Erwärmungs­zyklus Mitte der 40er-Jahre nach auch existieren­den Berechnung­en wieder endet und es kälter wird. Der Planet verbrutzel­t (©Werner Kogler)?

Naja, wir haben in den 1950ern auch schon eine Eiszeit durchlebt. Die Freiheit, in der wir leben, die Segnungen der Wissenscha­ft, die uns Gesundheit, Annehmlich­keit und auch unsere Langlebigk­eit ermögliche­n, die sozialen Errungensc­haften, der breite Wohlstand: Es gibt in Österreich keinen Grund am „Jetzt“zu nörgeln. Und im ganz persönlich­en Leben?

Na klar: Bis 20 war man unbeschwer­t, ohne es zu wissen, geschweige denn zu schätzen. Mit 20 st and einem die ganze Welt offen, mit 30 kam man in dieser Welt an – mit Kindern, Beruf und em Gefühl, seiPlatz nen gefunden zu haben.

Mit 40 leuchteten neue Ufer, die man in den neuen Freiräumen, die die 50 brachten, erreichen konnte. Jedes Alter war schön. Natürlich gab es allemal auch dunkle Momente, aber wert, gelebt zu werden, war doch jeder Tag. Eigentlich war doch jeder Lebens-Abschnitt (mit) der schönste. Und warum sollte sich das mit 60+ ändern? Nur weil das Spiegelbil­d dem Selbstbild nicht mehr entspricht? Weil’s vielleicht zwickt und zwackt? Weil manches schwerer wird? Weil die Endlichkei­t nachdrückl­ich und unübersehb­ar winkt? Eben deshalb! Jeder Tag ist ein Geschenk, eine Überraschu­ng, ein unerwartet­er Segen. Und ist es wert, so gelebt, ja gefeiert zu werden. Mein ganzes Leben lang hat mich das surrealist­ischste aller Kinderbüch­er begleitet: Pooh, der Bär (Achtung! Nicht die Zeichentri­ck-Version!).

Und auch wenn keine Kinder zum Vorlesen in Reichweite sind: Lesen Sie es Ihrem inneren Kind vor. Dort finden Sie dann unter anderem diese wunderbarw­eise Stelle: „Welchen Tag haben wir?“fragte Pooh. „Es ist heute,“quiekte Ferkel. „Mein Lieblingst­ag!“sagte Pooh. ***

Ruth Pauli (71) war viele Jahre innenpolit­ische Kolumnisti­n des KURIER

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