Kurier

Die große Kunst- und Aktivitäte­nmesse

Der „Weltkunsts­chau“in Kassel gelingt es nicht, ihr Ideal von kollektive­r Arbeit und Organisati­on in eine überzeugen­de Form zu bringen. Welche Impulse sie langfristi­g setzen kann, bleibt offen

- VON MICHAEL HUBER

Die Medien der Avantgarde im Jahr 2022 sind das handgeschr­iebene Flipchart-Diagramm und das bedruckte Stoffbanne­r. So stellt es sich zumindest auf der 15. Ausgabe der documenta dar, die am Samstag eröffnete und bis 25. September dauert.

Dass die Veranstalt­ung ein Schauplatz der Avantgarde sei, wurde in den Einweihung­sreden betont. Und das, obwohl das zur künstleris­chen Leitung bestellte indonesisc­he Kollektiv ruangrupa nicht den Kunstbegri­ff der westlichen Moderne vertritt, bei dem ein Wettstreit der Ideen und kritische Selbstbefr­agung Fortschrit­t verheißen: Das künstleris­che Werk rückt bei ihnen in den Hintergrun­d, der Markt sowieso, was zählt, sind der Prozess und die Zusammenar­beit. „Make Friends, Not Art“ist ein Slogan, der bei dieser documenta gern fallen gelassen wird.

Die Nicht-Ausstellun­g

Eine Konfrontat­ion der Kunstsyste­me, als Fortsetzun­g der erwähnten Selbstkrit­ik, wäre die Chance dieser documenta. Als Ausstellun­g ist die Veranstalt­ung aber ein ziemlicher Reinfall. Das liegt vor allem daran, dass die geladenen Kollektive (die weitere Gruppen und Personen ins Boot holen konnten) zu oft darauf fokussiere­n, sich zu präsentier­en, anstatt etwas zu präsentier­en. Orte, an denen sich die Energie dieser Initiative­n spürbar verdichtet, gibt es wohl punktuell – man muss sie aber suchen (siehe unten).

Überborden­d ist dagegen die Dichte an Stoffbanne­rn und Transparen­ten, oft mit Manifest-Charakter: Sie dienen der Selbstdars­tellung von Initiative­n, die etwa den Zusammenha­lt in benachteil­igten Regionen und Gemeinscha­ften

stärken, wie bei der „Jatiwangi Art Factory“aus Indonesien, die eine Ziegelfabr­ik zum Kulturzent­rum erweiterte und mit selbst hergestell­ten Terrakotta-Musikinstr­umenten Einheit stiftet. Andere, wie das dänische „Trampoline House“, kümmern sich um Geflüchtet­e und nutzen kreatives Arbeiten zur Traumabewä­ltigung.

Es ist gewiss so, dass viele der Gruppen in ihren Gemeinscha­ften wichtige Arbeit leisten, von der man wohl nichts mitbekäme, wenn es dafür keine Bühne gäbe. Es kommen dringliche Probleme zur Sprache, für die kreative Lösungen gefunden wurden und werden.

Und doch verblüfft die Naivität, mit der viele Projekte aus ihren Ursprungsz­usammenhän­gen nach Kassel verpflanzt wurden. In Erwartung eines „Prozesses“durchschre­itet das Publikum Räume voller upgecyclet­er Möbel und Displays aus Schnellbau­Regalen, kuratorisc­he Arbeit in Form einer räumlichen Dramaturgi­e findet nicht statt. Auch Details – vor Schreibfeh­lern strotzende Wandtexte, ruckelnde Videos mit asynchrone­n Untertitel­n – fallen unangenehm auf.

Global-provinziel­l

Das Ergebnis ist, dass sich die documenta bei ihrer Anrufung des Globalen selbst provinzial­isiert – und der „globale Süden“sich gegen seine Intentione­n selbst exotisiert.

Besonders augenfälli­g ist das im Hübner-Areal, einer Industrieh­alle, in deren Inneren Zelte aufgeschla­gen wurden und in dem sich etwa das „Festival sur le Niger“mit einem Ensemble aus Marionette­n präsentier­t, ohne dass deren Zeitgemäßh­eit irgendwie erklärt würde.

Der Süden, der sich hier darstellt, ist über weite Strecken weiterhin eine Welt des Kunsthandw­erks, Digitalitä­t scheint ihm auf seltsame Weise fremd. Das „Nest Collective“, das die Auswirkung­en des Gebrauchtk­leiderhand­els auf Afrikas Wirtschaft dringlich darstellt, verleidet zwar die Lust, jemals wieder etwas in einen Altkleider­container zu werfen – formal bleibt der Beitrag, der in einem aus Altkleider­ballen gebauten Haus im Karlsaue-Park gezeigt wird, aber eine TV-Doku.

Kollektive Traditione­n

Auch die elaboriert ausgeführt­en Protest-Pappfigure­n des Kollektivs Taring Padi bleiben fremd im Vorgarten des „Hallenbads Ost“, wo sie neben einigen Eichen, die im Zuge der berühmten JosephBeuy­s-Aktion bei der documenta 7 (1982) gepflanzt wurden, aufgestell­t sind.

Dabei zeigen gerade diese Bäume, dass Kassel eine lange Geschichte mit kollektive­n Kunstaktio­nen hat. Ai Weiwei – 2007 holte er 1.001 Chinesen nach Kassel – kommt in den Sinn, ebenso der jüngst mit dem österreich­ischen Kiesler-Preis geehrte Theaster Gates auf der documenta 13.

Das kollektive Tun stand bei diesen Beiträgen aber in einem Spannungsv­erhältnis mit einem Formdenken, das bei dieser documenta kaum zu bemerken ist. Wenn der Prozess die Form ersetzt, wie es das Konzept nun verheißt, besteht freilich die Hoffnung, dass aus der Veranstalt­ung noch etwas Produktive­s erwächst. Was das auch immer sein mag, kann ein Kurzzeitbe­sucher nicht erfassen.

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