Streik-Chaos im Zugsverkehr
Großbritannien. Arbeitsniederlegungen der Belegschaft, um höhere Löhne zu erzwingen, führen zu massiven Behinderungen über weite Teile der Woche – und könnten der Vorgeschmack auf eine breite Streikwelle sein
Große Londoner Bahnhöfe wie Kings Cross, Waterloo und Victoria – fast ausgestorben. Stationen in Manchester und Liverpool – verwaist. U-Bahn-Stationen in der Hauptstadt – geschlossen. Dafür lange Schlangen an Bushaltestellen, Leute mit frustrierten Mienen, Staus auf den Autobahnen sowie Uber-Tarife, die in die Höhe schießen. Bilder von Verkehrsdramen dominierten britische Medien am Dienstag, dem ersten Tag eines Großstreiks bei der britischen Bahn, dem größten seit 30 Jahren.
„Stillstand“, titelte die Sun, „Verkehrschaos“der Daily Mirror. Die Daily Mail sah das Land sogar „Zurück im
Lockdown“und berichtete von „verstopften Straßen und dem Kampf um Busse“.
Diese Woche stehen zwar unter anderem das Glastonbury Musik-Festival, Konzerte von Elton John und den Rolling Stones sowie Schulabschluss-Prüfungen an, aber weil 40.000 Mitarbeiter streiken, ist der Zugsverkehr nicht nur an den Streiktagen Dienstag, Donnerstag und Freitag betroffen. Die Zahl der Bahnverbindungen fällt da von sonst 20.000 auf etwa 4.500.
Am Dienstag fuhren Züge nur auf Hauptstrecken und nur von 7.30 bis 18.30 Uhr. In weiten Teilen von Schottland und Wales und englischen Regionen wie Cornwall kam der Schienenverkehr gänzlich zum Erliegen.
„Einige Schülerinnen mit langen Anfahrtswegen haben Hotels gebucht, andere quartieren sich bei Freunden ein“, sagte Jenny Brown, Direktorin einer Londoner Mädchenschule. „Eine Schülerin plant viereinhalb Stunden für ihren Weg ein, um ihre Matheprüfung nicht zu verpassen.“Auch viele Glastonbury-Besucher wollten bei halbiertem Zugfahrplan zum Festival, bei dem ab Mittwoch Stars wie Billie Eilish und Paul McCartney auftreten, nichts riskieren und wurden schon am Montag mit Campingausrüstung gesichtet.
Streik-Grund für Zugführer, Signalarbeiter und andere:
Der Streit über die Bezahlung zu Zeiten hoher Inflation und über die Arbeitsbedingungen.
Laut Experten ist auch der Gütertransport – und somit die Versorgung mit Lebensmitteln und Treibstoff – betroffen. Verkehrsminister Grant Shapps warnte am Wochenende, der „katastrophale“Zugstreik werde „Millionen Unschuldiger bestrafen“.
Manche sprechen bereits von einem möglichen „Sommer der Unzufriedenheit“, in Anlehnung an den „Winter der Unzufriedenheit“1978/79, als Massenstreiks das Land lahmlegten und die Labour-Regierung von James Callaghan klein beigeben musste und dann die Wahl verlor. „Wir werden nicht nachgeben“, meinte Premier Boris Johnson
Wie die Londoner Waterloo-Station waren die britischen Bahnhöfe am Dienstag geschlossen oder verwaist
und warnte, dass hohe Lohnansprüche steigende Lebenshaltungskosten nur weiter verschärfen würden. Gewerkschafter kritisierten aber, dass das letzte Lohn-Angebot deutlich „der Inflation hinterherhinkt“und „inakzeptabel“sei.
Vor Anwaltsstreik
Auch Rechtsanwälte planen für nächste Woche Arbeitsniederlegungen. Und bald könnten Lehrer, Krankenpfleger, Ärzte, Briefträger und die Müllabfuhr über Streiks abstimmen.
Am Montag spielte die Sun-Schlagzeile da auf eine Bahn-Durchsage an: „Wir bedauern, ihnen mitteilen zu müssen, dass dieses Land wieder in den 1970ern angekommen ist.“