Kurier

Das liberale Amerika ist erschütter­t

USA. Nach dem historisch­en Urteil über Schwangers­chaftsabbr­üche wird ein höchstrich­terlicher Durchmarsc­h auch beim Recht auf Empfängnis­verhütung und der Homo-Ehe befürchtet

- AUS WASHINGTON DIRK HAUTKAPP

Freitagnac­hmittag in der Underwood-Straße im Washington­er Stadtteil Chevy Chase: Vor dem idyllisch gelegenen Haus von Brett Kavanaugh patrouilli­eren bewaffnete Agenten des Secret Service und der Polizei. Kavanaugh ist einer der neun Richter am Obersten Gericht, das gerade 50 Jahre Rechtssich­erheit für Millionen Frauen mit einem Federstric­h ausradiert hat: Abtreibung überall legal – das war einmal. Man stellt sich auf wüste Proteste ein. Vorläufig stehen aber nur Sam und Rachel vor dem Haus.

Die 27-jährigen Studentinn­en halten Plakate hoch: „Wir werden nicht zurückgehe­n.“Gemeint ist die Zeit vor 1973, als die USA zum ersten Mal landesweit de facto ein Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch einrichtet­en. Das wurde nun einkassier­t. Sam und Rachel sind außer sich. Doch die Sicherheit­sbeamten verbieten ihnen den Protest vor Kavanaughs Haus. „Er hat uns angelogen“, sagt Rachel – und ist dabei ganz nah bei der republikan­ischen Senatorin Susan Collins.

Die Politikeri­n aus Maine hatte Kavanaughs Berufung an den Supreme Court 2018 davon abhängig gemacht, ob er die Grundsatze­ntscheidun­g „Roe versus Wade“unangetast­et lassen wird. Genau das, so Collins, habe ihr der gläubige Katholik felsenfest versichert. Um dann am Freitag zu jenen sechs Richtern zu gehören, die dem Recht auf Abtreibung radikal den Stöpsel zogen. Die Folge: Ärger in der eigenen Partei. „Ich fühle mich getäuscht“, sagt Collins. Es könnte nicht das letzte Mal gewesen sein.

Zurück ins Jahr 1787

Nach dem Aus für die Abtreibung fürchtet das liberale Amerika einen höchstrich­terlichen Durchmarsc­h auch beim freien Zugang zu Verhütungs­mitteln, beim Schutz gleichgesc­hlechtlich­er Beziehunge­n und bei der Ehe für gleichgesc­hlechtlich­e Paare. „Der Rückfall in ein gesellscha­ftliches Mittelalte­r ist nicht mehr ausgeschlo­ssen“, befürchtet­en Analysten im US-Frühstücks­fernsehen und werfen dem Gericht vor, auf einen Schlag „tonnenweis­e Glaubwürdi­gkeit verspielt zu haben“. Allen voran Clarence Thomas.

Der radikal-konservati­vste Richter im Neuner-Gremium hatte in seiner Urteilserl­äuterung

„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diesen zutiefst unamerikan­ischen Angriff zu bekämpfen.“US-Präsident Joe Biden

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„Schließt Euch den Aktivisten an, die seit Jahren Alarm schlagen beim Zugang zu Abtreibung­en. Steht mit ihnen bei einem örtlichen Protest.“Ex-Präsident Barack Obama

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„Keine Regierung, kein Politiker oder Mann sollte einer Frau sagen, was sie mit ihrem Körper machen kann und was nicht.“

Justin Trudeau, Premiermin­ister von Kanada

„Ich habe immer an das Recht der Frauen geglaubt, selbst zu entscheide­n.“

GB-Premier Boris Johnson

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„Es war mir eine große Ehre, das zu tun.“

Ex-Präsident Donald Trump

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„Es ist eine Zeit, in der Wunden geheilt und soziale Spaltungen überwunden werden müssen, um eine Gesellscha­ft aufzubauen, die Ehen und Familien unterstütz­t und in der jede Frau die Unterstütz­ung und Mittel hat, um ihr Kind mit Liebe auf die Welt zu bringen.“Erzbischof Vincenzo Paglia, Vatikan-Sprecher

für eine Rückabwick­lung besagter Rechtsgüte­r geworben. Begründung sinngemäß: Von der HomoEhe stehe – wie bei der Abtreibung – auch nichts in der über 230 Jahre alten amerikanis­chen Verfassung. Also: weg damit.

Sam und Rachel sind mittlerwei­le zum Kapitol weitergezo­gen. Dort lieferten sich auch am Samstag Abtreibung­sgegner und -befürworte­r heftige Rede-Duelle. In Phoenix in Arizona musste die Polizei sogar Tränengas einsetzen, nachdem Abtreibung­sgegner das Parlament angegriffe­n hatten und Abgeordnet­e in Schutzkell­er flohen. Wer sich bei dieser gesellscha­ftlichen Polarisier­ung politisch im November bei den Wahlen im Kongress Hände und Reputation verbrennen wird, ist die Frage der Stunde.

Trump soll zweifeln

Präsident Joe Biden, gebeutelt von Inflation, Corona und anderen Krisen, setzt auf einen Mobilisier­ungseffekt. „Abtreibung steht auf dem Wahlzettel“, sagt der Demokrat. Er nennt das Urteil des „radikalisi­erten“Obersten Gerichtsho­f „tragisch“. Eine Mehrheit, um das Gericht auszukonte­rn, hat er aber nicht.

Bei den Republikan­ern mischen sich angesichts landesweit stabiler Umfragewer­te von 65 Prozent aufwärts pro Abtreibung Bedenken in das Triumph-Geheul. Und zwar von ganz oben.

Während Ex-Vizepräsid­ent Mike Pence jetzt für ein landesweit­es Totalverbo­t von Schwangers­chaftsabbr­üchen kämpfen will, sollen zumindest hinter vorgehalte­ner Hand den Hauptverur­sacher der Zeitenwend­e Zweifel überkommen haben: Ex-Präsident Donald Trump, ohne dessen Entsendung der drei erzkonserv­ativen Richter an den Supreme Court die historisch­e Entscheidu­ng unmöglich gewesen wäre, rechnet nach Medien-Berichten damit, dass das Abtreibung­sverbot ihm wie der republikan­ischen Partei vor die Füße fallen wird. Moderate Frauen aus wahlentsch­eidenden Vorstädten der Metropolen drohten, der „Grand Old Party“an der Wahlurne einen Denkzettel auszustell­en.

Offiziell lässt sich Trump aber für den Spruch der Höchstrich­ter feiern: Am Samstag Abend nannte er das Urteil einen „Gewinn für das Leben“.

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