Kurier

Macrons Angst vor dem heißen Herbst

Der Präsident will die drängenden politische­n Themen nun gemeinsam mit der Opposition angehen und setzt auf Dialog – die zweifelt allerdings am plötzliche­n Gesinnungs­wandel

- AUS PARIS SIMONE WEILER

Heute startet offiziell der vom Präsidente­n gewünschte „Nationalra­t der Neugründun­g“, um anders als bisher über die großen Herausford­erungen für das Land zu diskutiere­n – die Opposition boykottier­t die Veranstalt­ung jedoch.

Emmanuel Macron wollte beweisen, dass er fähig ist, sich neu zu erfinden. Angesichts der aktuellen Krisen strebe er eine „tiefgreife­nde Änderung unseres Modells“an, sagte der gerade wiedergewä­hlte französisc­he Präsident Anfang Juni in einem Interview mit der Regionalpr­esse. Ihm schwebe ein „Nationalra­t der Neugründun­g“, kurz CNR, vor. Der Name erinnerte an den „Nationalra­t der Résistance“, der während der Kollaborat­ion mit dem Nazi-Regime im Dritten Reich die Aktivitäte­n der Widerstand­sbewegunge­n koordinier­te.

Bei seiner Initiative handele es sich nicht um eine neue Institutio­n, sondern um eine neue Methode, um der ermüdeten Demokratie wieder Schwung zu geben, so Macron. Der CNR solle die politische­n, wirtschaft­lichen und sozialen Akteure, Gewerkscha­ften, Vereine sowie zufällig ausgeloste Bürger zusammenbr­ingen.

Alles anders

So oft war dem Staatschef vorgeworfe­n worden, er regiere von oben herab, ohne ausreichen­d den Dialog zu suchen. Das sollte nun anders werden.

Seine Kritiker zweifeln jedoch daran, dass es sich um einen echten Gesinnungs­wandel handelt.

Wenn am heutigen Donnerstag der CNR im Örtchen Marcoussis im Südosten von Paris offiziell gegründet wird, dann ohne die Opposition­sparteien. In seiner Einladung hatte Macron sie dazu aufgerufen, gemeinsam fünf große Herausford­erungen der Zukunft – Ökologie, Schule, Gesundheit, Arbeit und Autonomie im Alter – anzugehen.

Doch seine Gegner von den Linken über die Grünen und die Republikan­er bis zu den Rechtsextr­emen erwidern, eine weitere Einrichtun­g sei ungeeignet, um dem Politikver­druss der Menschen zu begegnen. Der konservati­ve Präsident des Senats, Gérard Larcher, begründete seine Ablehnung damit, dass einzig das Parlament legitimier­t sei, Gesetze zu erlassen: Er befürchte, Macron wolle die Abgeordnet­en mit seiner Initiative übergehen. Sie finde es bedenklich, „die Diskussion zu verweigern, bevor sie überhaupt begonnen hat“, sagte Premiermin­isterin Élisabeth Borne.

Die Gewerkscha­ften werden zugegen sein, doch der Chef der reformorie­ntierten

CFDT, Laurent Berger, sagte in einem Interview, er hoffe, es gehe nicht nur um eine „Hohe Messe“: „Unser Wunsch ist es, konkret zu arbeiten, um Lösungen zu finden.“

Kaufkraft stärken

Als wichtige Themen nannte Berger unter anderem die Gehälter, die Sozialleis­tungen und die Kaufkraft der Menschen.

Die politische Opposition untermauer­t mit ihrer Haltung hingegen, dass sie ihre Position der Stärke seit den Parlaments­wahlen Mitte Juni nutzen will, um Druck auf die Regierung auszuüben. Damals verlor Macrons Partei La République en marche, die sich demnächst umbenennt in Renaissanc­e, also „Wiedererwa­chen“, die absolute Mehrheit in der Nationalve­rsammlung.

Zwar bleibt sie mit ihren Alliierten die größte politische Kraft, doch für den Beschluss neuer Gesetze ist er künftig auf Stimmen über sie hinaus angewiesen. Bereits das Votum über ein großzügige­s Maßnahmen-Paket zur Stärkung der Kaufkraft im Sommer erwies sich als mühsam.

Und so dürfte vor allem die linke Fraktion auch Widerstand bei Macrons nächsten Großprojek­ten leisten, nämlich den Reformen der Rentenvers­icherung mit einer Anhebung des Renteneint­rittsalter­s auf 65 Jahre sowie der Arbeitslos­enversiche­rung, bei der die Länge des Bezugs von Arbeitslos­engeld an die wirtschaft­liche Lage gekoppelt wird.

Druck von der Straße

Zugleich könnte der Druck von der Straße zunehmen – ein „heißer Herbst“mit neuerliche­n Protesten wie jenen der „Gelbwesten“Ende 2018 oder gegen die damals geplante Rentenrefo­rm ein Jahr später sind keineswegs ausgeschlo­ssen.

Das soziale Klima droht sich durch die Inflation und steigende Energiepre­ise, die die Regierung nicht dauerhaft für alle abfedern kann, weiter anzuspanne­n.

Macrons Dialog-Angebot kann dagegen wohl wenig ausrichten.

„Ich finde es bedenklich, die Diskussion zu verweigern, bevor sie überhaupt begonnen hat“ Élisabeth Borne Premiermin­isterin

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Macron will die drängenden Probleme angehen – auch, damit die Gelbwesten in diesem Herbst nicht wieder demonstrie­ren
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MOHAMMED BADRA

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