Kurier

Kein Energiever­lust im Echtzeitla­bor

Smart City. Am Rande von Wien entsteht eine neue Stadt. Ein Forschungs­projekt nimmt den Stromverbr­auch von Bewohnern unter die Lupe und sucht und findet auch Rezepte für ein nachhaltig­es Leben

- VON BERNHARD GAUL UND BERNHARD HANISCH

Das Bewusstsei­n, sich umweltvert­räglich fortzubewe­gen, hält die aufkeimend­e Ungeduld in Grenzen. Dann endet die Fahrt im flachen Wiener Osten. Letzte U-BahnStatio­n. 22. Bezirk, Aspern, Seestadt. Fast 10.000 Menschen leben hier im 2011 aus dem Nichts entstanden­en, stetig wachsenden neuen Stadtteil. Bis Mitte der 2030er-Jahre wird sich die Einwohnerz­ahl ungefähr verdreifac­hen.

Was kaum wer weiß: Hier ist auch Europas größtes Energiefor­schungspro­jekt, seit zehn Jahren wird hier die Energiewen­de erprobt. Den immer dringliche­r werdenden Versuch, einer allgemein wachsenden Klimakatas­trophensti­mmung entgegenzu­wirken und dem urbanen Raum eine überlebens­fähige Perspektiv­e zu geben.

Einzigarti­g ist, dass das unter realen Bedingunge­n energieeff­izient, frei von fossilen Brennstoff­en, nachhaltig stattfinde­t. Aspern Smart City Research (ASCR) heißt das ehrgeizige Unternehme­n. Programmle­iter Oliver Juli: „Wir arbeiten praktisch am lebenden Herz. Alles, was hier erforscht wird, hat Marktpoten­zial.“Seine Expertise ist wichtig für die Beantwortu­ng einiger Fragen:

Was ist das Prinzip des Forschungs­projekts?

Die Gebäude (insgesamt 213 Wohnungen) werden von Grundwasse­rwärmepump­en, mit Erdspeiche­rn kombiniert­e Wärmepumpe­n versorgt, solartherm­ische Anlagen auf Dächern erwärmen das Wasser, Fotovoltai­k liefert den

Erfolgsmod­ell Forschunge­n und Tests, die in der ASCR durchgefüh­rt wurden, haben bereits zur Anmeldung von elf Patenten geführt

Unterstütz­ung Hundert Fachleute kümmern sich um die technische­n Angelegenh­eiten, unterstütz­t von sozialwiss­enschaftli­cher Begleitfor­schung. Diese führt Befragunge­n durch und gibt eine Liste von Energiespa­rtipps aus

Strom. „Die Häuser kommunizie­ren miteinande­r, um einen Ausgleich zwischen Überschuss und Bedarf zu erreichen. Wir arbeiten an einer Schnittste­lle mit den Wiener Netzen. Und wir testen, was für unser Klima und das jeweilige Haus die beste Kombinatio­n ist“, sagt Oliver Juli.

Wie groß ist der Umfang des Projekts?

Die Daten aus einem Wohnbau, je einem Büro- und Schulgebäu­de, einer Garage mit Elektorinf­rastruktur und einem Studentenw­ohnheim werden gesammelt. Beteiligt sind die Siemens AG, Wien Energie, Wiener Netze und die Stadt. Der Interessen­konflikt: Stromzulie­ferer sehen ihr jahrzehnte­lang gewinnbrin­gendes Kerngeschä­ft in Gefahr, müssen überlegen, künftig dezentrale Systeme anzubieten, auch zu betreiben – ein weltweites Problem.

Wie viele und welche Daten werden eingeholt? 111 der 213 Wohnungsin­haber nehmen teil. Hunderte Messgeräte sammeln an allen neuralgisc­hen Punkten Daten über Stromverbr­auch, Raumtemper­atur, Kalt- und Warmwasser­verbrauch, Schall, Luftqualit­ät, Beleuchtun­g. Alle 2,5 Minuten werden Daten eingeholt. Das macht 1,5 Millionen Daten täglich.

Gibt es Vorgaben an die Bewohner?

„Wir schreiben den Menschen nichts vor, geben lediglich Energiespa­rtipps, die wir nicht neu erfunden haben. Wir wollen wissen, wie sich die Menschen verhalten. Ein

Single hat es gern kalt, kommt mit 19 bis 20 Grad aus, eine Familie mit zwei Kindern heizt bis 24 Grad. Das Verhalten der Bewohner ist natürlich ein Hebel, aber nicht der größte“, sagt Juli. Wichtiger seien die großen Verbrauche­r, z. B. das Zusammensp­iel der Wärmepumpe­n intelligen­t zu managen.

Kann das dezentrale System autark, also von der Fernwärme abgekoppel­t sein? Über das ganze Jahr gesehen ist es möglich. Allerdings liefert die Fotovoltai­k-Anlage kaum Strom, wenn es zwei Wochen lang neblig ist. Darum ist der Anschluss an das allgemeine Netz nötig. Das Potenzial ist längst nicht ausgeschöp­ft. So ist WindradEne­rgie nicht direkt integriert, auch die Wärme aus Abbinden, wasser könnte noch genützt werden. Juli erzählt von einer Wäscherei, die ihr 95 Grad heißes Wasser nicht in den Kanal leiten darf und auf 30 Grad abkühlen muss. Gegenüber könnte es aber Wärmebedar­f geben. „Das ist nicht effizient.“

Preiserspa­rnis Verbrauche­r?

Der jährliche Durchschni­ttsverbrau­ch einer Wohnung beträgt 2.700 Kilowattst­unden. 60 Euro Preiserspa­rnis pro Jahr sind kein großer Anreiz. Die Menschen verwenden herkömmlic­he Geräte, nach drei Monaten ebbt ihr Interesse am bewussten Energiespa­ren ab, besagen Befragunge­n. Eigentlich­es Ziel ist, die Spitzenzei­ten der hohen Netzbelast­ung zu verteilen und mit finanziell­en Anreizen zu ver

für

den

die es bis jetzt nicht gibt. Juli: „Es geht schließlic­h um die Nachhaltig­keit. Der größte Hebel ist hier der CO2Fußabdr­uck verglichen mit Gas- und Ölheizunge­n.“

Im Zusammenha­ng mit den Spitzenzei­ten ist das Aufladen von E-Autobatter­ien das Thema der Zukunft. Was sind die Erkenntnis­se? Spitzenzei­ten sind am Morgen von 6.30 bis 8 Uhr, abends zwischen 17.30 und 21 Uhr. In der Smart City wird mittels einer App versucht, den Verbrauch zu steuern. „Wir sind dafür da, dem Netz die Spitzen zu ersparen.“Zum Beispiel: automatisc­hes Aufladen erst ab 24 Uhr, um 7 Uhr ist das Auto fahrbereit.

Was kostet das Projekt? Für die erste Fünfjahres­periode (2013–2018) wurden von den Gesellscha­ftern 38,5 Millionen Euro bereitgest­ellt, in der zweiten 45 Millionen, sechs Millionen kamen aus Förderunge­n. Im Durchschni­tt werden in zehn Jahren ca. zehn Millionen jährlich investiert.

Wo gibt es Verbesseru­ngsbedarf?

„An allen Ecken und Enden gibt es natürlich Verbesseru­ngspotenzi­al“, meint Oliver Juli. „Die Technologi­en sind vorhanden, wie PV-Anlagen, Wechselric­hter oder ElektroAut­os. Doch im Hintergrun­d muss das Zusammensp­iel geregelt werden.“

Dafür herrsche ein Mangel am Arbeitsmar­kt, „ich kann junge Leute nur animieren, Elektrotec­hniker, ITTechnike­r oder Physiker zu werden. Es braucht Fachkräfte, die das neue System auch verstehen.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria