Kurier

Raketenein­schlag. Irrläufer in Polen: Knapp vorbei am Bündnisfal­l

Die NATO geht nicht davon aus, dass Moskau Polen angegriffe­n hat – vermutlich war es eine ukrainisch­e Abwehrrake­te. Der Vorfall sorgt aber für Schockmome­nte und zeigt, wie schnell die Welt in einen Krieg stolpern könnte

- VON CAROLINE FERSTL UND INGRID STEINER-GASHI

Die Untersuchu­ngen laufen noch, betonte NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g am Mittwoch. Dennoch gilt es als „äußerst wahrschein­lich“, dass es eine ukrainisch­e Luftabwehr­rakete des Typs S-300 war, die am Dienstag versehentl­ich auf polnischem Gebiet eingeschla­gen ist. Zwei Menschen wurden dabei getötet. Nach dem Vorfall drängen sich aber Fragen auf – die wichtigste lautet: Wie nah ist eine offene Konfrontat­ion zwischen NATO und Russland?

Woher weiß man, dass

? die Rakete vom ukrainisch­en Abwehrschi­rm stammte?

Sowohl Russland als auch die Ukraine verwenden im Krieg Luftabwehr­raketen des Typs S-300, die noch aus sowjetisch­er Produktion stammen. Doch die Trümmer ließen sich eindeutig zuordnen, sagt Militärstr­atege Markus Reisner dem KURIER: „Die S-300 hat nur eine begrenzte Reichweite. Es könnte natürlich sein, dass Russland die Rakete aus Belarus gefeuert hat, aber das entspräche nicht der bisher angewendet­en Taktik der russischen Seite.“

Warum hat der Abwehrschi­rm

? über Polen die Rakete nicht abgefangen?

Das ostpolnisc­he Dorf Przewodow, wo die Rakete eingeschla­gen ist, liegt sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. „Man kann davon ausgehen, dass die NATOFlugab­wehrsystem­e die Rakete gesehen haben, allerdings nicht mehr rechtzeiti­g reagieren konnten“, so Reisner. Dafür hätte man Abwehrsyst­eme unmittelba­r an der Grenze stationier­en müssen. Das sei aber nicht so, der NATO-Luftabwehr­teppich sei nicht „lückenlos“.

Hätte das geplante

? „European Sky Shield“die Rakete abfangen können?

Es wäre jedenfalls gelungen, wenn eine Abschussst­ation in direkter Nähe gewesen wäre, sagt Reisner, der sich für einen derart ausgebaute­n

Schutzschi­rm auf europäisch­er Ebene ausspricht. Genauso wie für eine Teilnahme Österreich­s an dem Schirm – trotz Neutralitä­t: „Denn die Rakete macht keinen Unterschie­d zwischen einem neutralen Staat oder nicht.“

War das der erste derartige ? Vorfall?

Nein. Bei der ukrainisch­en Rakete handelte es sich nicht um den ersten Querschläg­er dieses Krieges auf europäisch­em Boden: Im März verirrte sich eine Drohne des Typs Tupolew M-141 über Rumänien und Ungarn nach Zagreb. Die Drohne hatte einen Sprengkörp­er an Bord und war ursprüngli­ch von ukrainisch­en Streitkräf­ten in die russisch besetzten Gebiete geschickt worden.

Moskau wirft der NATO

? „Fake News“vor und behauptet, ja gar keine Waffen zu besitzen, die bis nach Polen reichen. Stimmt das?

Nein. Russland verfügt natürlich über strategisc­he Waffen, etwa Interkonti­nental-Raketen, die mit Atomköpfen ausgestatt­et sind, die leicht bis nach Europa kämen. Andere Raketen müssten für einen Angriff auf Mitteleuro­pa diese Distanz gar nicht erst zurücklege­n, sondern könnten von Flugzeugen aus starten. Solche Raketen nutzt Moskau bereits für Angriffe aus dem belarussis­chen Luftraum. Dazu kommen Raketen, die auf seegestütz­ten Systemen gestartet werden können, etwa von U-Booten oder Kampfschif­fen im Schwarzen Meer.

Kommt es jetzt zu einer

? offenen Konfrontat­ion zwischen der NATO und Russland? Oder ist die NATO schon längst Kriegspart­ei?

Auch als noch nicht klar war, dass es keine russische, sondern ukrainisch­e Abwehrrake­ten waren, die in Polen eingeschla­gen sind, reagierte die NATO besonnen. Kurz danach stand ohnehin fest: Es gab keinen gezielten Angriff Russlands auf ein NATOLand. Damit musste auch nicht der Bündnisfal­l (Artikel 5) ausgerufen werden, wonach alle NATO-Staaten gemeinsam das angegriffe­ne Land verteidige­n. Die NATO sieht sich explizit nicht als Kriegspart­ei. Sie entsendet keine Soldaten in die Ukraine und hat keine Luftraumsc­hließung durchgeset­zt. Nicht einmal die massive Waffenhilf­e für die Ukraine läuft über die NATO, sondern über eine eigens gegründete Ukraine-Verteidigu­ngs-Gruppe unter Führung der USA. Wichtigste­s Ziel der NATO: keinen direkten Krieg mit Russland.

Mit Sicherheit werden die NATO-Staaten die Luftabwehr an ihrer Ostflanke erhöhen. Jeder künftige, mögliche Vorfall werde einzeln untersucht, schildert ein Militärexp­erte in Brüssel dem KURIER. Sollten tatsächlic­h russische Raketen auf NATO-Territoriu­m einschlage­n, und das mehrmals, würde das Eskalation bedeuten: „Aber bisher haben NATO und die russische Armee genau gewusst, wo ihre roten Linien sind. Und die liegen darin, eine direkte Konfrontat­ion zu vermeiden.“

Der Vorfall ereignete sich

? im Rahmen eines groß angelegten Bombardeme­nts Russlands auf die Ukraine. Wie steht es um die Energieinf­rastruktur der Ukraine aktuell?

Dem ukrainisch­en Präsidente­n Selenskij zufolge war der Angriff am Dienstag der stärkste auf Infrastruk­turobjekte seit Beginn des Krieges. Zeitweise sollen zehn Millionen Menschen ohne Strom gewesen sein. Teile der Stromverso­rgung konnten wieder hergestell­t werden, doch bis zu 60 Prozent der kritischen Infrastruk­tur dürften nachhaltig beschädigt worden sein. Laut Reisner wird ernsthaft überlegt, Kiew wegen der fehlenden Energiever­sorgung zu evakuieren.

Ein Teil der in Przewodow eingeschla­genen S-300Rakete: Sowohl die Ukraine als auch Russland nutzen das Abwehrsyst­em aus Sowjet-Zeiten

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Was passiert, wenn sich ? solche Zwischenfä­lle häufen?

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