Raketeneinschlag. Irrläufer in Polen: Knapp vorbei am Bündnisfall
Die NATO geht nicht davon aus, dass Moskau Polen angegriffen hat – vermutlich war es eine ukrainische Abwehrrakete. Der Vorfall sorgt aber für Schockmomente und zeigt, wie schnell die Welt in einen Krieg stolpern könnte
Die Untersuchungen laufen noch, betonte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch. Dennoch gilt es als „äußerst wahrscheinlich“, dass es eine ukrainische Luftabwehrrakete des Typs S-300 war, die am Dienstag versehentlich auf polnischem Gebiet eingeschlagen ist. Zwei Menschen wurden dabei getötet. Nach dem Vorfall drängen sich aber Fragen auf – die wichtigste lautet: Wie nah ist eine offene Konfrontation zwischen NATO und Russland?
Woher weiß man, dass
? die Rakete vom ukrainischen Abwehrschirm stammte?
Sowohl Russland als auch die Ukraine verwenden im Krieg Luftabwehrraketen des Typs S-300, die noch aus sowjetischer Produktion stammen. Doch die Trümmer ließen sich eindeutig zuordnen, sagt Militärstratege Markus Reisner dem KURIER: „Die S-300 hat nur eine begrenzte Reichweite. Es könnte natürlich sein, dass Russland die Rakete aus Belarus gefeuert hat, aber das entspräche nicht der bisher angewendeten Taktik der russischen Seite.“
Warum hat der Abwehrschirm
? über Polen die Rakete nicht abgefangen?
Das ostpolnische Dorf Przewodow, wo die Rakete eingeschlagen ist, liegt sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. „Man kann davon ausgehen, dass die NATOFlugabwehrsysteme die Rakete gesehen haben, allerdings nicht mehr rechtzeitig reagieren konnten“, so Reisner. Dafür hätte man Abwehrsysteme unmittelbar an der Grenze stationieren müssen. Das sei aber nicht so, der NATO-Luftabwehrteppich sei nicht „lückenlos“.
Hätte das geplante
? „European Sky Shield“die Rakete abfangen können?
Es wäre jedenfalls gelungen, wenn eine Abschussstation in direkter Nähe gewesen wäre, sagt Reisner, der sich für einen derart ausgebauten
Schutzschirm auf europäischer Ebene ausspricht. Genauso wie für eine Teilnahme Österreichs an dem Schirm – trotz Neutralität: „Denn die Rakete macht keinen Unterschied zwischen einem neutralen Staat oder nicht.“
War das der erste derartige ? Vorfall?
Nein. Bei der ukrainischen Rakete handelte es sich nicht um den ersten Querschläger dieses Krieges auf europäischem Boden: Im März verirrte sich eine Drohne des Typs Tupolew M-141 über Rumänien und Ungarn nach Zagreb. Die Drohne hatte einen Sprengkörper an Bord und war ursprünglich von ukrainischen Streitkräften in die russisch besetzten Gebiete geschickt worden.
Moskau wirft der NATO
? „Fake News“vor und behauptet, ja gar keine Waffen zu besitzen, die bis nach Polen reichen. Stimmt das?
Nein. Russland verfügt natürlich über strategische Waffen, etwa Interkontinental-Raketen, die mit Atomköpfen ausgestattet sind, die leicht bis nach Europa kämen. Andere Raketen müssten für einen Angriff auf Mitteleuropa diese Distanz gar nicht erst zurücklegen, sondern könnten von Flugzeugen aus starten. Solche Raketen nutzt Moskau bereits für Angriffe aus dem belarussischen Luftraum. Dazu kommen Raketen, die auf seegestützten Systemen gestartet werden können, etwa von U-Booten oder Kampfschiffen im Schwarzen Meer.
Kommt es jetzt zu einer
? offenen Konfrontation zwischen der NATO und Russland? Oder ist die NATO schon längst Kriegspartei?
Auch als noch nicht klar war, dass es keine russische, sondern ukrainische Abwehrraketen waren, die in Polen eingeschlagen sind, reagierte die NATO besonnen. Kurz danach stand ohnehin fest: Es gab keinen gezielten Angriff Russlands auf ein NATOLand. Damit musste auch nicht der Bündnisfall (Artikel 5) ausgerufen werden, wonach alle NATO-Staaten gemeinsam das angegriffene Land verteidigen. Die NATO sieht sich explizit nicht als Kriegspartei. Sie entsendet keine Soldaten in die Ukraine und hat keine Luftraumschließung durchgesetzt. Nicht einmal die massive Waffenhilfe für die Ukraine läuft über die NATO, sondern über eine eigens gegründete Ukraine-Verteidigungs-Gruppe unter Führung der USA. Wichtigstes Ziel der NATO: keinen direkten Krieg mit Russland.
Mit Sicherheit werden die NATO-Staaten die Luftabwehr an ihrer Ostflanke erhöhen. Jeder künftige, mögliche Vorfall werde einzeln untersucht, schildert ein Militärexperte in Brüssel dem KURIER. Sollten tatsächlich russische Raketen auf NATO-Territorium einschlagen, und das mehrmals, würde das Eskalation bedeuten: „Aber bisher haben NATO und die russische Armee genau gewusst, wo ihre roten Linien sind. Und die liegen darin, eine direkte Konfrontation zu vermeiden.“
Der Vorfall ereignete sich
? im Rahmen eines groß angelegten Bombardements Russlands auf die Ukraine. Wie steht es um die Energieinfrastruktur der Ukraine aktuell?
Dem ukrainischen Präsidenten Selenskij zufolge war der Angriff am Dienstag der stärkste auf Infrastrukturobjekte seit Beginn des Krieges. Zeitweise sollen zehn Millionen Menschen ohne Strom gewesen sein. Teile der Stromversorgung konnten wieder hergestellt werden, doch bis zu 60 Prozent der kritischen Infrastruktur dürften nachhaltig beschädigt worden sein. Laut Reisner wird ernsthaft überlegt, Kiew wegen der fehlenden Energieversorgung zu evakuieren.
Ein Teil der in Przewodow eingeschlagenen S-300Rakete: Sowohl die Ukraine als auch Russland nutzen das Abwehrsystem aus Sowjet-Zeiten