Erschlagen vor laufender Kamera
Russlands barbarischer Umgang mit „Verrätern“wirft Fragen auf. Auch die Ukraine bleibt Antworten schuldig
Das Video ist kaum zu ertragen. Der Mann blickt in die Kamera, sein Kopf ist an einen Stein gebunden. „Mein Name ist Jewgenij Anatoljewitsch Nuschin, geboren 1967. Ich bin an die Front, um für Russland gegen die Ukraine zu kämpfen“, sagt er.
In Kiew, sagt er, sei er in Gefangenschaft geraten. Dann schlägt plötzlich ein Mann mit einem Hammer auf seinen Kopf. Einmal, dann ein zweites Mal. Das Geräusch ist grauenvoll.
Die „Wagner-Strafe“
Das Video stammt aus dem Telegram-Channel Grey Zone, der den russischen Wagner-Söldnern zugerechnet wird „Der Verräter erhielt seine traditionelle WagnerStrafe“, steht darunter, das Video selbst heißt „Hammer der Rache“.
Allein auf Grey Zone 1,1 Millionen Mal geklickt, dient es in den kriegstreibenden Telegram-Channels in Russland als Beispiel dafür, wie man mit „Verrätern“umgehen müsse. Nuschin, der Mann im Video, hatte in ukrainischer Gefangenschaft nämlich öffentlich gesagt, zur Ukraine überlaufen zu wollen. Er sei ein Opfer russischer Propaganda gewesen, sagte er: „Es waren nicht die
Ukrainer, die den Krieg gegen Russland begonnen haben. Es war Putin.“
Viele offene Fragen
Die große Frage lautet daher: Wie konnte Nuschin aus der Kiewer Haft in die Hände seiner Söldnerkollegen gelangen? Dass die Russen, speziell die Wagner-Gruppen, äußerst brutal mit eigenen Männern umgehen, ist schließlich bekannt; eine solche Auslieferung ist auch laut Menschenrechtskonvention untersagt.
Aus Kiew heißt es, Nuschin habe seiner Rückkehr freiwillig zugestimmt. Das erscheint Menschenrechtlern eigenartig, zumal der Russe verurteilter Straftäter war und bei einer Rückkehr nach Russland noch bis 2027 im Gefängnis hätte sitzen müssen. Der für den Fall zuständige Berater des ukrainischen Präsidenten, Michailo Podoljak, konnte auf Nachfrage zudem keine Beweise für die freiwillige Auslieferung vorlegen – einer solchen hätte Nuschin schriftlich zustimmen müssen.
Für die Ukraine ist der Fall zum veritablen Problem geworden. Kiew will russische Soldaten eigentlich dazu bringen, sich freiwillig zu ergeben. Falls Überläufer gegen ihren Willen zurückgeschickt werden, würde das die eigene Glaubwürdigkeit stark beschädigen.
Auch beim Umgang mit Kollaborateuren in den eigenen Reihen muss sich Kiew unangenehme Fragen gefallen lassen. Nach der Befreiung Chersons wurden etwa Bilder von zwei Überläufern publik, die an Masten gefesselt sind. Und in den kürzlich befreiten Gebieten sucht der ukrainische Geheimdienst derzeit so aktiv nach „Saboteuren“, wie Kiew jene Ukrainer nennt, die mit den Besatzern zusammenarbeiteten, dass Beobachter von „theatralischen Festnahmen“sprechen.
Zwangs-Kollaboration
Problematisch dabei ist, dass die „Überläufer“oft nicht freiwillig kollaborierten. Zwar gibt es viele, meist Ältere, die auf Eigeninitiative mit den Russen zusammenarbeiteten, weil sie sich ideologisch Moskau nahe fühlten, dazu kommen viele, die der russische Geheimdienst FSB bewusst vor der Invasion angeworben hat. In einigen Fällen ist aber auch Geld oder Erpressung im Spiel; viele Ukrainer haben schlicht kollaboriert, um russischen Grausamkeiten zu entgehen – den Folterkellern etwa, die in Cherson entdeckt wurden.
Wer unter Zwang kollaborierte, kann den drakonischen Strafen an sich entgehen; „Verrätern“drohen bis zu 20 Jahre Haft. Dass man erpresst wurde, muss man aber erst nachweisen – und die Ausnahme gilt auch nicht für alle. Polizisten oder Richter, die ihre Arbeit während der Okkupation fortsetzten, werden ohnehin bestraft – egal, ob sie zur Kollaboration gezwungen wurden oder nicht.