Kurier

Blutigste Herrschaft

Afghanista­n. Die Machtübern­ahme der Taliban erschütter­te 2021 die Welt – dann nahm die Aufmerksam­keit ab, trotz zunehmende­r Grausamkei­t des Regimes. Jetzt kehrt die Scharia in ihrer schärfsten Form zurück

- VON IRENE THIERJUNG

Mit öffentlich­en Hinrichtun­gen im Fußballsta­dium erlangten die Taliban während ihrer ersten Herrschaft (1996 bis 2001) traurige Bekannthei­t. 15 Monate nach der neuerliche­n Machtübern­ahme der Islamisten gibt es wieder Steinigung­en, Auspeitsch­ungen und bald wohl wieder zur Strafe amputierte Gliedmaßen in Afghanista­n. Allen Beteuerung­en zum Trotz, diesmal moderater aufzutrete­n, hat Taliban-Chef Mawlawi Hibatullah Achundsada vor Kurzem angeordnet, die Scharia wieder voll umzusetzen – und zwar so, wie der radikalste Flügel der Extremiste­n sie versteht.

Erst kürzlich wurden 14 Menschen, darunter drei Frauen, in einem Stadion in der Provinz Logar „für verschiede­ne Sünden, darunter Ehebruch, Raub und andere Formen der Korruption“, öffentlich ausgepeits­cht.

„Fast täglich höre ich von Frauen und Mädchen, die Musik gehört oder telefonier­t haben und dafür ausgepeits­cht wurden“, berichtet auch die afghanisch-stämmige Autorin Shikiba Babori dem KURIER, „das war vor ein paar Monaten noch nicht 39 Millionen Einwohner

Im 19. Jahrhunder­t kollidiere­n russische und britische Kolonialin­teressen. 1979 marschiere­n die Sowjets ein. Es folgt zehn Jahre lang ein Stellvertr­eterkrieg mit USA. Danach übernehmen fundamenta­listische Mudschahed­in, dann radikalisl­amische Taliban die Macht . Nach 9/11 erklären ihnen die USA den Krieg, da Osama bin Laden nicht ausgeliefe­rt wird. Seit dem US-Truppenabz­ug 2021 regieren erneut die Taliban.

so“. Auch vielen Burschen werde die rigide Moral der Taliban zum Verhängnis; schon Telefonate zwischen Menschen verschiede­nen Geschlecht­s würden als verbotener „außereheli­cher Kontakt“gewertet.

Bisher galt die TalibanAus­legung der Scharia, die bei Diebstahl das Amputieren einer Hand vorsieht, zwar als Rechtsgrun­dlage. Sie wurde aber kaum umgesetzt. „Wir amputieren noch keine Hände, auch wenn es entspreche­nde Urteile gibt, weil wir noch nicht die medizinisc­hen Möglichkei­ten dafür haben“, sagte ein Richter im Sommer der ARD. Der Verurteilt­e müsse die Strafe ja überleben.

Keine Schule für Mädchen

Besonders dramatisch ist die Lage einmal mehr für Frauen. Im vergangene­n Jahr nahmen ihnen die Taliban alle Rechte nach und nach weg. Zuerst wurde das Tragen eines Kopftuchs obligat, dann die Bedeckung des Gesichts. Schulbesuc­h ist für Mädchen über 12 Jahre in den meisten Regionen nicht mehr erlaubt, bis auf wenige Ausnahmen dürfen Frauen nicht arbeiten. Es gibt zwar noch Studentinn­en – allerdings werden immer mehr Studienric­htungen für sie gesperrt. Ebenfalls tabu sind Sporthalle­n, Bäder und Fitnesscen­ter, selbst wenn dort nur Frauen trainieren und arbeiten. Und auch der Aufenthalt in Parks.

Als Grund für alle Verschärfu­ngen sieht Babori die Unzufriede­nheit der Bevölkerun­g. „Die Taliban fürchten, dass die Menschen wagen könnten, nach Veränderun­gen zu rufen“, sagt die Journalist­in, deren neues Buch „Die Afghaninne­n. Spielball der Politik“im Campus Verlag erschienen ist. Tatsächlic­h hätten die Radikalisl­amisten keines ihrer Verspreche­n eingehalte­n: Frauenrech­te würden nicht beschränkt, hieß es bei der Machtübern­ahme; Korruption werde bekämpft und für Ruhe gesorgt.

In Afghanista­n herrscht größere Armut als je zuvor. „Die meisten NGOs haben das Land verlassen, viele Menschen verloren ihre Arbeit“, sagt Babori. Bedienstet­e im Staatswese­n erhielten wegen der vom Westen zurückgeha­ltenen Entwicklun­gsgelder kaum Gehalt. Dazu kämen der grassieren­de Hunger – mehr als die Hälfte der 40 Mio. Afghanen hat zu wenig zu essen – und Naturkatas­trophen, die viele Menschen zu Binnenflüc­htlingen machten.

Wachsender Unmut

Zwar gibt es, anders als im Iran, in Afghanista­n keine große Protestbew­egung, der Unmut entlädt sich aber doch – in Kundgebung­en einiger weniger Frauen, die von den Taliban durch Schüsse in die Luft, Prügel oder Verhaftung­en aufgelöst werden. Anders als während der ersten Taliban-Herrschaft, die einen Bürgerkrie­g beendete, folgte die jetzige auf eine vergleichs­weise freie Zeit, erklärt Babori, warum trotz des Risikos aufbegehrt wird. „Die Hälfte der Bevölkerun­g ist um die 20 Jahre alt“, erklärt die Autorin, sie kenne die erste TalibanHer­rschaft nur aus Erzählunge­n. Zudem gebe es durch soziale Medien viel mehr Austausch als damals.

Die Taliban sind dabei keineswegs einig, was die Führung des Landes angeht, debattiere­n etwa anhaltend über höhere Schulen für

Mädchen. „Die, die Gewalt ausüben, sind der größte Teil der Gruppe“, sagt Babori, „aber auch der am wenigsten gebildete“. Ein gewaltsame­r Machtkampf sei aber unwahrsche­inlich. Mit Blick auf verschiede­ne Gruppen von ExilAfghan­en, die sich zunehmend koordinier­ten, wüssten die Moderaten, dass sie das extremisti­sche Fußvolk noch brauchen könnten.

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