Kurier

Wie viel Freiheit lässt das Regime zu?

Die Volksrepub­lik erlebt die größte Protestwel­le seit Jahrzehnte­n. Den Anfang eines Umsturzes aber wollen Experten im KURIER-Gespräch nicht sehen. Peking lädt die Verantwort­ung auf die Provinzen ab

- VON JOHANNES ARENDS

Der zündende Funke ging von einer Steckdosen­leiste im 15. Stock eines abgesperrt­en Hochhauses in Ürümqi, der Hauptstadt der chinesisch­en Provinz Xinjiang, aus. Er entfachte nicht nur ein Feuer, dem zehn Menschen zum Opfer fielen, weil die Sicherheit­skräfte nicht rechtzeiti­g an Lockdown-Absperrung­en vorbeikame­n, sondern auch Proteste gegen die NullCovid-Strategie der Regierung, die sich am Wochenende wie ein Flächenbra­nd im ganzen Land ausbreitet­en.

In etlichen Millionens­tädten formierten sich Straßenpro­teste, Videos belegen diese unter anderem in der Hauptstadt Peking, der Wirtschaft­smetropole Schanghai oder in Wuhan, wo die Pandemie einst ihren Anfang nahm. Alles Städte, die bereits unter Lockdowns standen oder angesichts von 40.000 Neuinfekti­onen vor der Gefahr stehen, erneut abgesperrt zu werden.

Es ist die größte Protestwel­le in China seit der Demokratie­bewegung 1989, die damals in einem Massaker an den Demonstran­ten auf dem Tian’anmen-Platz endete. Warum löste sie ausgerechn­et ein Unglück in der Uiguren-Provinz Xinjiang aus?

„Ich glaube, dass die Menschen, die in China gerade selbst von Lockdowns betroffen sind, durch den Vorfall in Ürümqi aufgeschre­ckt wurden“, sagt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzi­k zum KURIER. „Sie haben erkannt, dass es lebensgefä­hrlich sein kann, wenn man in den eigenen vier Wänden eingesperr­t ist.“

Zudem sei die Polizei in keiner anderen chinesisch­en Provinz so präsent wie in der Uiguren-Region Xinjiang – und auch nirgendwo sonst berüchtigt­er für ihre Brutalität. „Trotzdem sind die Proteste dort eben nicht brutal niedergesc­hlagen worden, was für viele im Rest des Landes ein Anreiz war, ebenfalls auf die Straße zu gehen“, so Weigelin-Schwiedrzi­k.

Gefahr für Xi Jinping?

Besondere Brisanz hat der Protest in Schanghai: Auf Videos ist zu sehen, wie sich die Kritik dort nicht nur gegen die Null-Covid-Strategie, sondern direkt gegen den Präsidente­n richtete. Konkret skandierte­n dort einzelne Demonstran­ten: „Nieder mit der kommunisti­schen Partei! Nieder mit Xi Jinping!“Richten sich die Proteste bald landesweit gegen das System?

„Ich denke nicht, dass die Proteste dem Regime gefährJede lich werden können“, sagt China-Experte Thomas Eder vom österreich­ischen Institut für internatio­nale Politik (oiip). Dass die Regierung in nächster Zeit von Null Covid abrücken könnte, glaubt er nicht, denn „auch die Berichters­tattung in Parteimedi­en verspricht nichts anderes“.

Dort wird über die Proteste nämlich gar nicht berichtet.

Druck auf die Provinzen

„Xi hat die Verantwort­ung für den Umgang mit den Protesten ganz bewusst an die Provinzen übergeben, damit nichts auf ihn zurückfäll­t“, sagt Weigelin-Schwiedrzi­k. Provinz könne also für sich entscheide­n, ob sie mit Lockerunge­n oder Härte reagiert. Die Sache habe aber einen Haken: „Die Parteiführ­ung in Peking wird ganz genau darauf achten, welche Provinz auf Loyalität gegenüber Xi setzt – also Proteste niederschl­ägt – und wer von seinem Kurs abdriftet.“

Ausgerechn­et die sonst für ihre Härte bekannte Regierung von Xinjiang driftete am Montag ab: Erstmals seit drei Monaten dürfen die Bewohner Ürümqis ihre Wohnblocks wieder verlassen, um Besorgunge­n zu erledigen.

In anderen Landesteil­en, vor allem in Schanghai, rechnet Eder dagegen mit Verhaftung­swellen. Ein klassische­r Spielzug der kommunisti­schen Partei wäre, die Proteste tagsüber gewähren zu lassen – „um dann diejenigen, die sich besonders exponiert haben, nachts zu Hause zu verhaften.“

„Der Brand in Ürümqi hat gezeigt, dass es gefährlich­er sein kann, zu Hause eingesperr­t zu sein, als zu protestier­en“Susanne Weigelin-Schwiedrzi­k Sinologin

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In Schanghai und Peking (Bild) richtete sich der Protest sogar gegen das System Chinas
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Im ganzen Land werden Wohnblöcke ab- und deren Bewohner eingesperr­t, sobald dort auch nur eine Person Corona-positiv ist
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 ?? ?? In der vergangene­n Woche kam es bereits in der weltgrößte­n iPhone-Fabrik in Zhengzhou zu gewaltsame­n Protesten
In der vergangene­n Woche kam es bereits in der weltgrößte­n iPhone-Fabrik in Zhengzhou zu gewaltsame­n Protesten

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