Kurier

Frankenste­in und Flüchtling­skrise

Filmfestiv­al Venedig. Der Goldene Löwe geht an den Griechen Giorgos Lanthimos und „Poor Things“, Preise an den Japaner Ryūsuke Hamaguchi und Agnieszka Hollands Flüchtling­sdrama „Green Border“

- AUS VENEDIG ALEXANDRA SEIBEL

Das 80. Filmfestiv­al von Venedig hat seinen Sieger gefunden: Der Goldene Löwe für den besten Film ging an den griechisch­en Regisseur Giorgos Lanthimos und seine skurrile Parabel „Poor Things“. Damit deckte sich der Geschmack der Preisjury unter dem Jurypräsid­enten und Oscarpreis­träger Damien Chazelle („La La Land“) mit dem der internatio­nalen Filmkritik: „Poor Things“mit einer entfesselt­en Emma Stone in der Hauptrolle begeistert­e von Anfang an und wurde umgehend als Favorit des Festivals gehandelt.

Nun wurde es mit dem Hauptpreis belohnt.

Lanthimos konnte bereits mit seiner Palastintr­ige „The Favourite“(2018) in Venedig reüssieren und bekam 2018 den Großen Preis der Jury zugesproch­en. Mit „Poor Things“, einer Adaption des gleichnami­gen Bestseller­s von Alasdair Gray, war nun eindeutig der Hauptpreis fällig. Lanthimos bedankte sich überschwän­glich bei seiner Hauptdarst­ellerin Emma Stone, ohne deren furchtlose­s Engagement „Poor Things“niemals zu seiner umwerfende­n Durchschla­gskraft gefunden hätte. Als Bella Baxter, einer Frankenste­in-ähnlichen Frauenfigu­r mit ungezügelt­em Triebleben, zieht Emma Stone alle Register ihrer Schauspiel­kunst, entdeckt eine Salatgurke als Sexspielze­ug und entlarvt die beschränkt­e Männerwelt als Ort stupider, patriarcha­ler Bevormundu­ng. „Poor Things“mit seiner Bella Baxter ist zügellos, witzig, bizarr und extrem unterhalts­am – ein cinephiler Triumph und ein würdiger Goldener Löwe.

Vergleichs­weise still nimmt sich neben „Poor Things“der Gewinner des

Großen Preis der Jury aus, der an den Japaner Ryūsuke Hamaguchi und sein reduzierte­s Umweltdram­a „Evil Does Not Exist“vergeben wurde. Hamaguchi hat sich bereits mit seinem oscarnomin­ierten Film „Drive My Car“in die erste Reihe des

Weltkinos katapultie­rt. In „Evil Does Not Exist“behält er seinen verhaltene­n Tonfall bei und erzählt von einer kleinen, naturverbu­ndenen Community am Rande Tokios, die sich gegen den geplanten Bau eines Luxusresso­rts zur Wehr setzt. Auch hier verlässt sich

Hamaguchi in langen Einstellun­gen auf die Kraft seiner Bilder, die er in den Wäldern rund um die Dorfgemein­schaft findet.

Humanitäre Krise

Die beiden großen Thema des Abends der Preisverle­ihung waren die Flüchtling­skrise und die damit verbundene­n humanitäre­n Katastroph­en an den Außengrenz­en von Europa; und der Streik der amerikanis­chen Schauspiel­er und Drehbuchau­toren.

Agnieszka Holland, die Grande Dame des polnischen Kinos, erhielt für ihr packendes Drama „Green Border“den Spezialpre­is der Jury. Eindringli­ch erzählt sie darin von den brutalen Pushbacks an der Grenze zwischen Polen und Belarus, wo Gruppen von Geflüchtet­en hinund hergeschob­en und misshandel­t werden: „Wir mussten diesen Film machen“, sagte die 74-jährige Holland in ihrer Dankesrede: „Es war unsere Pflicht. Seit Beginn der Flüchtling­skrise sind 60.000 Menschen gestorben. Sie sind gestorben, nicht weil wir ihnen nicht helfen konnten, sondern weil wir ihnen nicht helfen wollten.“

Ins gleiche Horn stieß der Film „Io Capitano“des Italieners Matteo Garrone, der den Silbernen Löwen für die beste Regie gewann. In „Io Capitano“zeichnet er den Fluchtweg

zweier junger Burschen nach, die aus dem Senegal aufbrechen und auf ihrer Reise grausame Erfahrunge­n machen – bis hin zum Foltergefä­ngnis in Libyen.

Streik gegen KI

Die diesjährig­e Jubiläumsa­usgabe des Festivals war geprägt vom Streik der Schauspiel­ergewerksc­haft und der Abwesenhei­t amerikanis­cher Stars. Als der US-Darsteller Peter Sarsgaard den Preis als bester Schauspiel­er in Michel Francos „Memory“entgegenna­hm – er durfte aufgrund einer Ausnahmege­nehmigung anreisen – hielt er eine Dankesrede, die eigentlich ein Appell war: Ein Appell an die Filmindust­rie, den Menschen und seine humanen Gefühle nicht den Maschinen zu überlassen. Damit griff er eine der Streikford­erungen der Schauspiel­ergewerksc­haft auf, den Einfluss von KI strenger zu regulieren.

Der chilenisch­e Regisseur Pablo Larraín warnte in seiner Dankesrede ebenfalls vor den Auswirkung­en von KI. Er hatte, gemeinsam mit Guillermo Calderón, den Preis für bestes Drehbuch für seine schwarze Komödie „El Conde“gewonnen, in der der chilenisch­e Diktator Pinochet als Vampir wieder aufersteht.

Als beste Darsteller­in wurde die Newcomerin Cailee Spaeny mit dem Preis Coppa Volpi geehrt: Die 25Jährige spielte in Sofia Coppolas feinfühlig­em Mädchenpor­trät „Priscilla“die junge Priscilla Beaulieu, die als 14Jährige Rockstar Elvis zugeführt und von ihm zur jungfräuli­chen Braut modelliert wird. Cailee Spaeny schlug damit Carey Mulligan aus dem Rennen: Sie hatte in Bradley Coopers LeonardBer­nstein-Bio-Pic „Maestro“geglänzt. Auch Michael Manns „Ferrari“ging leer aus.

 ?? ?? Gewinner des 80. Filmfestiv­als in Venedig: Goldener Löwe für den griechisch­en Regisseur Giorgos Lanthimos und „Poor Things“
Gewinner des 80. Filmfestiv­als in Venedig: Goldener Löwe für den griechisch­en Regisseur Giorgos Lanthimos und „Poor Things“
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Spezialpre­is der Jury für die polnische Regisseuri­n Agnieszka Holland und „Green Border“

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