Frankenstein und Flüchtlingskrise
Filmfestival Venedig. Der Goldene Löwe geht an den Griechen Giorgos Lanthimos und „Poor Things“, Preise an den Japaner Ryūsuke Hamaguchi und Agnieszka Hollands Flüchtlingsdrama „Green Border“
Das 80. Filmfestival von Venedig hat seinen Sieger gefunden: Der Goldene Löwe für den besten Film ging an den griechischen Regisseur Giorgos Lanthimos und seine skurrile Parabel „Poor Things“. Damit deckte sich der Geschmack der Preisjury unter dem Jurypräsidenten und Oscarpreisträger Damien Chazelle („La La Land“) mit dem der internationalen Filmkritik: „Poor Things“mit einer entfesselten Emma Stone in der Hauptrolle begeisterte von Anfang an und wurde umgehend als Favorit des Festivals gehandelt.
Nun wurde es mit dem Hauptpreis belohnt.
Lanthimos konnte bereits mit seiner Palastintrige „The Favourite“(2018) in Venedig reüssieren und bekam 2018 den Großen Preis der Jury zugesprochen. Mit „Poor Things“, einer Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Alasdair Gray, war nun eindeutig der Hauptpreis fällig. Lanthimos bedankte sich überschwänglich bei seiner Hauptdarstellerin Emma Stone, ohne deren furchtloses Engagement „Poor Things“niemals zu seiner umwerfenden Durchschlagskraft gefunden hätte. Als Bella Baxter, einer Frankenstein-ähnlichen Frauenfigur mit ungezügeltem Triebleben, zieht Emma Stone alle Register ihrer Schauspielkunst, entdeckt eine Salatgurke als Sexspielzeug und entlarvt die beschränkte Männerwelt als Ort stupider, patriarchaler Bevormundung. „Poor Things“mit seiner Bella Baxter ist zügellos, witzig, bizarr und extrem unterhaltsam – ein cinephiler Triumph und ein würdiger Goldener Löwe.
Vergleichsweise still nimmt sich neben „Poor Things“der Gewinner des
Großen Preis der Jury aus, der an den Japaner Ryūsuke Hamaguchi und sein reduziertes Umweltdrama „Evil Does Not Exist“vergeben wurde. Hamaguchi hat sich bereits mit seinem oscarnominierten Film „Drive My Car“in die erste Reihe des
Weltkinos katapultiert. In „Evil Does Not Exist“behält er seinen verhaltenen Tonfall bei und erzählt von einer kleinen, naturverbundenen Community am Rande Tokios, die sich gegen den geplanten Bau eines Luxusressorts zur Wehr setzt. Auch hier verlässt sich
Hamaguchi in langen Einstellungen auf die Kraft seiner Bilder, die er in den Wäldern rund um die Dorfgemeinschaft findet.
Humanitäre Krise
Die beiden großen Thema des Abends der Preisverleihung waren die Flüchtlingskrise und die damit verbundenen humanitären Katastrophen an den Außengrenzen von Europa; und der Streik der amerikanischen Schauspieler und Drehbuchautoren.
Agnieszka Holland, die Grande Dame des polnischen Kinos, erhielt für ihr packendes Drama „Green Border“den Spezialpreis der Jury. Eindringlich erzählt sie darin von den brutalen Pushbacks an der Grenze zwischen Polen und Belarus, wo Gruppen von Geflüchteten hinund hergeschoben und misshandelt werden: „Wir mussten diesen Film machen“, sagte die 74-jährige Holland in ihrer Dankesrede: „Es war unsere Pflicht. Seit Beginn der Flüchtlingskrise sind 60.000 Menschen gestorben. Sie sind gestorben, nicht weil wir ihnen nicht helfen konnten, sondern weil wir ihnen nicht helfen wollten.“
Ins gleiche Horn stieß der Film „Io Capitano“des Italieners Matteo Garrone, der den Silbernen Löwen für die beste Regie gewann. In „Io Capitano“zeichnet er den Fluchtweg
zweier junger Burschen nach, die aus dem Senegal aufbrechen und auf ihrer Reise grausame Erfahrungen machen – bis hin zum Foltergefängnis in Libyen.
Streik gegen KI
Die diesjährige Jubiläumsausgabe des Festivals war geprägt vom Streik der Schauspielergewerkschaft und der Abwesenheit amerikanischer Stars. Als der US-Darsteller Peter Sarsgaard den Preis als bester Schauspieler in Michel Francos „Memory“entgegennahm – er durfte aufgrund einer Ausnahmegenehmigung anreisen – hielt er eine Dankesrede, die eigentlich ein Appell war: Ein Appell an die Filmindustrie, den Menschen und seine humanen Gefühle nicht den Maschinen zu überlassen. Damit griff er eine der Streikforderungen der Schauspielergewerkschaft auf, den Einfluss von KI strenger zu regulieren.
Der chilenische Regisseur Pablo Larraín warnte in seiner Dankesrede ebenfalls vor den Auswirkungen von KI. Er hatte, gemeinsam mit Guillermo Calderón, den Preis für bestes Drehbuch für seine schwarze Komödie „El Conde“gewonnen, in der der chilenische Diktator Pinochet als Vampir wieder aufersteht.
Als beste Darstellerin wurde die Newcomerin Cailee Spaeny mit dem Preis Coppa Volpi geehrt: Die 25Jährige spielte in Sofia Coppolas feinfühligem Mädchenporträt „Priscilla“die junge Priscilla Beaulieu, die als 14Jährige Rockstar Elvis zugeführt und von ihm zur jungfräulichen Braut modelliert wird. Cailee Spaeny schlug damit Carey Mulligan aus dem Rennen: Sie hatte in Bradley Coopers LeonardBernstein-Bio-Pic „Maestro“geglänzt. Auch Michael Manns „Ferrari“ging leer aus.