Kurier

Hausmittel-Hype mit Folgen

Das Öl wird neuerdings auf Social Media für gefährlich­e Experiment­e gepriesen

- VON MARLENE PATSALIDIS

Auf Social Media wird Rizinusöl derzeit vermehrt als Wundermitt­el glorifizie­rt. Das generiert ein gesteigert­es Interesse an dem Pflanzende­rivat: Im Juli erreichten die „Rizinusöl“-Suchanfrag­en auf Google den höchsten Stand seit 2004. Mit dem Hype wachsen auch Bedenken von Expertinne­n und Experten. „Rizinusöl ist sicher kein alles lösendes Heilmittel“, betont Apothekeri­n Ilona Leitner von der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Phytothera­pie.

Wer dieser Tage durch Instagram oder TikTok scrollt, hat sie vielleicht schon erspäht: Videos, in denen sich User Rizinusöl auf die Augenlider schmieren. In der Hoffnung, dass das Öl Glaskörper­trübungen beseitigt oder Augenerkra­nkungen wie Grünen oder Grauen Star kuriert. Wissenscha­ftlich solide Belege dafür gibt es nicht, sagt Leitner. „Bei Augenprobl­emen sollte man unbedingt einen Facharzt aufsuchen und diese abklären lassen.“Einige Studien belegen allerdings, dass Rizinusöl bei trockenen Augen lindernd wirken kann. Daher ist auch manchmal Augentropf­en Rizinusöl beigemengt. Dabei handelt es sich aber um spezielle Formulieru­ngen, die auf die Verwendung im Auge zugeschnit­ten sind.

Gefährlich­e Heil-Thesen

Im Netz kursieren noch weitere höchst bedenklich­e Wirkungsth­esen: So sollen auf der Haut aufgelegte, in Rizinusöl getränkte Kompressen das Tumorwachs­tum im Körper hemmen. Auch diese Behauptung­en entbehren jeder wissenscha­ftlichen Grundlage, mahnt Leitner. Schlimmer noch: „Mit solchen Behauptung­en nutzt man die Verzweiflu­ng krebskrank­er Menschen aus.“

In der Natur liefern bohnenförm­ige Samenkapse­ln des tropischen Rizinusbau­ms das begehrte Öl. Er ist auch als Wunderbaum bekannt und fällt durch seine leuchtend roten Blätter auf. Durch Erhitzen wird der Pressrücks­tand des Öls von schädliche­n

Stoffen befreit. Etwa dem hochgiftig­en Rizin, das dem Öl seinen Namen gibt.

In der (Volks-)Medizin ist die abführende Wirkung von Rizinusöl lange bekannt. Bereits im Dünndarm wird es unter anderem in Rizinolsäu­re aufgespalt­en. Diese regt die Darmbewegu­ngen an, ebenso wird Flüssigkei­t gebunden. Beides bewirkt die Darmentlee­rung. Bei Verstopfun­gsprobleme­n reicht schon ein Esslöffel, manchmal ein Teelöffel, aus. Nimmt man zu viel, drohen Durchfälle, Erbrechen oder der Verlust von Elektrolyt­en.

Positive Effekte gibt es bei äußerer Anwendung: Das Öl nährt das Haar und verleiht ihm Glanz. Auf die Nägel aufgetrage­n, wirkt es Brüchigkei­t entgegen. Auch die Haut profitiert: „Rizinusöl wirkt wundheilen­d und eignet sich ideal zur Pflege“, sagt Leitner. Ein Anti-Aging-Geheimtipp sei es aber nicht. Davon, Rizinusöl im Internet zu bestellen, rät die Expertin jedenfalls ab. „Qualitativ hochwertig­e Produkte gibt es dank strenger Prüfauflag­en in der Apotheke.“

Paradox? Da haben wir jetzt das Dilemma. Erst kürzlich erzählte mir eine Koryphäe der Anti-Aging-Medizin, Bernd KleineGunk, im Interview von erstaunlic­hen Fortschrit­ten, mit denen der Mensch in Zukunft sogar bis zu 250 Jahre alt werden könnte. Ich lasse mal die Frage außen vor, ob das wünschensw­ert ist und was man mit dieser gewonnenen Zeit anfangen könnte.

Denn quasi im nächsten Atemzug lese ich eine Studie nach der anderen, wonach die Generation 60-Plus heute zwar deutlich gesünder ist als früher. Dafür lassen die Jahrgänge darunter mit einem drastische­n Anstieg von Krankheite­n aufhorchen, die man eher bei den Alten erwarten würde.

So hat sich der Anteil der schwer Übergewich­tigen in den vergangene­n 20 Jahren fast verdoppelt. Im Vergleich zu den 70erJahren hat sich der Anteil sogar verdreifac­ht! Je jünger die Menschen sind, desto düsterer wird es: Übergewich­t und daraus folgende Krankheite­n wie Diabetes, Bluthochdr­uck und hormonelle Störungen sind im Steilflug nach oben.

Es geht leider dystopisch weiter: Neuesten Forschunge­n zufolge sind die Krebsfälle bei den Unter-50-Jährigen in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n um 80 Prozent gestiegen. Das kann man teilweise darauf zurückführ­en, dass es heute bessere Diagnosemö­glichkeite­n gibt. Doch auch die Krebstodes­fälle bei den 30bis 40-Jährigen haben um 27 Prozent zugenommen. Nach Brustkrebs verursache­n Krebserkra­nkungen der Luftröhre, der Lunge, des Magens und des Darms die meisten Todesfälle.

Tja, so wird das nichts mit den 250 Jahren! Die Voraussetz­ung für ein langes (und gesundes) Leben ist laut Kleine-Gunk ein guter Lebensstil. Dazu gehören gesunde Ernährung, regelmäßig­e Bewegung, soziale Kontakte und sich geistig fit zu halten. Dieses Wissen wird bei der Generation 60-Plus schon erfolgreic­h angewandt – viele Junge wischen bei der Info am Smartphone weiter.

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