Frankenstein-Frau, Foltergefängnis, Vampire und Flüchtlingskrise
Goldener Löwe von Venedig ging an Griechen Giorgos Lanthimos („Poor Things“), Preis für Agnieszka Holland
Filmfestival. Der Gewinner der 80. Filmfestspiele in Venedig heißt Giorgos Lanthimos. Der griechische Regisseur konnte für seine exzellente, skurrile Farce „Poor Things“den Goldenen Löwen für sich gewinnen. In seiner Rede bedankte er sich überschwänglich bei seiner Hauptdarstellerin Emma Stone, ohne deren furchtloses Spiel als Bella Baxter sein Film nicht möglich gewesen wäre: „Sie ist der Film.“
Tatsächlich zog die Oscarpreisträgerin, die eine Art Frankenstein-Figur spielt und sich mit ungezügeltem Triebleben in die Männerwelt stürzt, alle Register ihrer Schauspielkunst.
Der Große Preis der Jury ging an den Japaner Ryūsuke
Hamaguchi und sein stilles Umweltdrama „Evil Does Not Exist“, in dem sich eine kleine Community am Land gegen die Errichtung eines Luxusressorts wehrt.
Der Italiener Matteo Garrone erhielt den Silbernen Löwen für die beste Regie: Der „Gomorrha“-Regisseur erzählt in „Io Capitano“von zwei jungen Burschen, die aus dem Senegal aufbrechen und auf ein besseres Leben in Europa hoffen. Ihre Reise wird zur grausamen Odyssee mit Zwischenstation im libyschen Foltergefängnis. Sedou Sarr, einer der beiden Hauptdarsteller, erhielt den Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Jungschauspieler.
Ein weiteres Werk, das sich mit der Flüchtlingskrise beschäftigt, wurde ebenfalls ausgezeichnet: Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland erhielt für ihr packendes, intensives Drama „Green Border“, das im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus angesiedelt ist und von brutalen Pushbacks erzählt, den Spezialpreis der Jury.
Pinochet als Blutsauger
Als bester Schauspieler konnte sich der US-Amerikaner Peter Sarsgaard durchsetzen. Er verkörpert in dem zügig erzählten Drama „Memory“des Mexikaners Michel Franco einen Demenzkranken, der sich in seine Pflegerin (Jessica Chastain) verliebt. In seiner Dankesrede hielt Sarsgaard
ein flammendes Plädoyer für die Streikziele der Schauspielgewerkschaft und forderte die Unterhaltungsindustrie auf, den Einfluss von Künstlicher Intelligenz zu reduzieren.
Ähnliches verlangte auch der chilenische Regisseur und Drehbuchautor Pablo Larraín. Er hatte gemeinsam mit Guillermo Calderón den Drehbuchpreis für seine schwarze Pinochet-Vampir-Komödie „El Conde“gewonnen.
Als beste Schauspielerin wurde die Newcomerin Cailee Spaeny ausgezeichnet. Die 25-Jährige verkörpert in Sofia Coppolas Coming-ofAge-Drama die junge Priscilla Beaulieu, die von ihrem Mädchenzimmer direkt ins Boudoir von Elvis Presley übersiedelt und von „The King“ganz nach seinem Geschmack zur jungfräulichen Braut modelliert wird. Diese Entscheidung der Preisjury unter dem Vorsitz von Oscarpreisträger Damien Chazelle kam überraschend: Neben Emma Stone wurde Carey Mulligan als potenzielle Gewinnerin gehandelt, denn ihr Spiel als leidende Ehefrau von Leonard Bernstein in Bradley Coopers „Maestro“hatte rundum großen Eindruck hinterlassen.
Aber wenn schon Venedig ihre Leistung nicht honoriert, kann Mulligan jedenfalls auf eine Oscarnominierung hoffen. Sie selbst war – wie auch viele andere Hollywood-Stars – aufgrund des Streiks nicht an den Lido gereist.