Kurier

„Sie verstand die menschlich­e Natur“

Kino. Die dritte Poirot-Verfilmung von Kenneth Branagh kommt in die Kinos. Der Urenkel von Agatha Christie James Prichard wacht über das Werk der Krimi-Königin und erzählt von Familiener­innerungen

- VON PETER TEMEL

Ein Agatha-Christie-Krimi als Gruselscho­cker, der fast zur Gänze in einem düsteren Palazzo in Venedig spielt? Diesen Genre-Mix hätte man sich bis vor Kurzem nicht vorstellen können. Aber der Wächter über das literarisc­he Erbe der Krimi-Queen hat nicht nur sein Okay für „A Haunting in Venice“gegeben, er ist auch selbst federführe­nd an Bord.

James Prichard, Co-Produzent des Films, ist Vorstandsv­orsitzende­r der Agatha Christie Limited, die seit 1955 über das Werk der berühmten Britin wacht. Für die dritte Poirot-Verfilmung von Kenneth Branagh wurde die Roman-Vorlage „Halloween Party“von England nach Venedig verlegt. Drehbuchau­tor Michael Green habe sich dem Horror-Genre zuwenden wollen, „um einen Film mit ganz anderen Tönen zu haben“, sagt Prichard im Gespräch mit dem KURIER und anderen Medien. Venedig habe die ideale Kulisse dafür geboten und versprühe eine entspreche­nde mystische Atmosphäre. „Venedig ist fast eine zusätzlich­e Figur“, meint Prichard. „Im Film gibt es einen schweren Sturm, das Wasser verstärkt das Gefühl der Angst und des Schreckens der Menschen, die in diesem Palazzo festsitzen.“

Radikal

Wie originalge­treu eine filmische Umsetzung sein müsse? Prichard: „Tatsächlic­h glaube ich, dass es schiefgehe­n kann, wenn man die Bücher 1:1 nehmen will. Meiner Urgroßmutt­er gefielen bekannterm­aßen die ersten Theaterada­ptionen nicht. Sie war der Meinung, dass die Dramatiker nicht radikal genug waren. Sie verstand, dass die Bühne andere Dinge erforderte als der Roman.“

Warum der Film sein Gütesiegel bekam? Prichard: „Ich habe wirklich das GeMeisterd­etektiv fühl, dass der Film ein Agatha-Christie-Erlebnis ist. Er enthält Horror-Elemente, es gibt neue Details in der Handlung und in den Figuren, aber im Kern ist es ein Krimi. Und das macht es zu einem Agatha Christie.“

Hercule Poirot hat dabei auch Unterstütz­ung von der US-Krimiautor­in Ariadne Oliver (Tina Fey), die in mehreren Büchern von Christie auftaucht.

Prichard sagt über das literarisc­he Alter Ego: „Man muss nicht Einstein sein, um zu erkennen, dass Elemente von ihr in der Figur enthalten sind.“Er glaube, dass sie Ariadne Oliver manchmal erlaubte, „Dinge zu sagen, die sie vielleicht nicht sagen würde, die sie aber gerne sagen würde“. Oliver sei extravagan­t, sehr extroverti­ert, sehr offenherzi­g. „Meine Urgroßmutt­er war nichts davon“, sagt Prichard. „Ich glaube also, dass sie zum Teil mit uns gespielt hat. Und der Punkt ist, dass niemand genau weiß, wo die Grenze liegt.“

Erinnerung­en

Einen Großteil seiner Erinnerung­en bezieht Prichard aus Erzählunge­n seines Vaters und seiner Großmutter Rosalind Hicks. Als Agatha Christie am 12. Jänner 1976 mit 85 Jahren starb, war er noch keine sechs Jahre alt. Pridass chard erinnert sich an längere Sommeraufe­nthalte auf dem Haus seiner Urgroßmutt­er in Devon. „Eine meiner prägendste­n Erinnerung­en an sie war tatsächlic­h der Tag, an dem sie starb. Ich erinnere mich, wie ich von der Schule zurückkam, und sie war die Hauptmeldu­ng in den SechsUhr-Nachrichte­n. Das waren wahrschein­lich die Momente, in denen mir klar wurde,

meine Urgroßmutt­er etwas ganz Besonderes war.“

Er habe „zwei sehr unterschie­dliche Versionen von ihr im Kopf. Da ist Agatha Christie, die Ikone, und da ist die Familienpe­rson, die wir Neema nannten“. Sie sei „eine sehr private Person“gewesen. „Nichts gefiel ihr mehr, als mit engen Freunden und der Familie am Tisch zu sitzen. Sie mochte es nicht, Werbung für ihre Bücher zu machen. Daher hatte sie auch Glück, in einer Zeit zu leben, in der es keine mehrmonati­gen Marketingt­ourneen und keine sozialen Medien gab. Sie konnte einfach ihrer Arbeit nachgehen und dann die Auszeit genießen. Das verschafft­e ihr auch die Möglichkei­t, drei bis vier Bücher im Jahr zu schreiben.“

Sein Vater Mathew Prichard habe immer gesagt, „dass sie eine der besten Zuhörerinn­en war, die er je getroffen hat. Und ich denke, das ist vielleicht der Schlüssel zu ihren Geschichte­n. Sie verstand die menschlich­e Natur auf eine Weise, wie es nur wenige tun“.

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 ?? ?? James Prichard: Urenkel und Nachlassve­rwalter
James Prichard: Urenkel und Nachlassve­rwalter
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Christie: Geniale Krimi-Autorin und als Uroma „Neema“

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