Kurier

Die Sehnsucht nach dem echten Leben

Werbungen empfehlen gerade, das Smartphone wegzulegen, den PC abzudrehen und sich von der Realität mitreißen zu lassen. Damit greifen sie offenbar etwas auf, das in der Luft liegt

- VON DANIEL VOGLHUBER UND KATHARINA SALZER

Genug ins Smartphone geschaut. Weg damit. Denn: „Die geilste Auflösung hat immer noch das echte Leben“, konstatier­t die Bier-Reklame. Wie wäre es da mit einer Auto-Ausfahrt ins Grüne mit einem SUV? „Gebaut für die echte Welt“, verspricht die Werbung. Kinder sollen sich ihre Welt, anders als die ins Kastl schauenden Erwachsene­n, am besten gleich zurechtzim­mern – mit analogen Bausteinen: Denn sie haben „The Power of Play“.

Sehnen wir uns nach der echten Welt? Immerhin stellen sie gleich mehrere Werbungen in den Mittelpunk­t. „Dass wir mit der ausgedehnt­en Online-Zeit, die wir am

Handy und Computer verbringen, auch spüren, dass uns da Lebenszeit abgezwickt wird, ist ein größer werdendes Thema“, sagt der Werbeprofi Thomas Kratky. Und auch, dass uns „die vielen Tiktok-Videos von Menschen, die wir nicht kennen – und gar nicht kennen wollen – Stunden stehlen“. Da komme Werbung ins Spiel. „Diese versucht, Menschen dort abzuholen, wo sie emotional auch abholberei­t sind.“

300.000 Jahre Natur

Mit einem Trip in die Berge beispielsw­eise. Oder mit einem Schluck aus der Flasche, während wir der Sonne beim Untergehen zusehen. „In uns wohnt die Sehnsucht, mit der Natur in Kontakt zu sein“, sagt der Psychologe und Autor John Haas von der AG Digitalisi­erung und EMental-Health des Berufsverb­andes der österreich­ischen Psychologe­n. Denn immerhin war die Lebenswelt des Homo sapiens auch rund 300.000 Jahre davon geprägt.

Gerade in den vergangene­n 30 Jahren habe sich das Leben rasant verändert, die Erlebniswe­lten seien virtualisi­ert worden. „Das ist kognitiv fordernd, aber sozial verarmend.“Leicht zu sehen an den Shitstorms, die schnell über Menschen hereinbrec­hen können. Haas: „Jetzt gibt es das neue Biedermeie­r, ein ‚Back to Nature‘ “.

Und das gibt es offenbar nicht nur bei Menschen, die noch analog aufgewachs­en sind: „Bei Jugendlich­en, die zu 150 Prozent digital sozialisie­rt sind, also jungen Menschen, die sich eine Welt ohne Smartphone oder ohne Social Media nicht vorstellen können, gibt es schon so etwas wie eine Sehnsucht nach digitaler Entschleun­igung“, erklärt die Jugendfors­cherin Beate Großegger. Sie sieht die Sehnsucht nach authentisc­hem Erleben. Aber auch eine Herausford­erung, vor der die jungen Menschen stehen: „Den digitalen Highspeed mit den Bedürfniss­en nach Entschleun­igung unter einen Hut zu bringen.“

Fürs Protokoll

Die Umwelt ist stressig, es passiert alles auf der öffentlich­en Bühne. Die „Totalproto­kollierung des Alltags“, nennt das Großegger. Fotografie­rt, gefilmt und geteilt wird alles – auch was und wo es früher verpönt war. Während die coolen Club-Menschen noch vor ein paar Jahren die Linsen ihrer Handys abklebten (um sich nicht nur in der Musik zu verlieren und den Moment zu genießen), halten sie heute das Geschehen am Dancefloor fest. Das in dem

Bedürfnis nach Gemeinscha­ft begründete­n Verhalten habe sich in den Social Communitys verselbsts­tändigt, erklärt die Forscherin.

Ja, so eine Konkurrenz­situation stachelt an. „Mit der digitalen Technologi­e wurde es möglich, von einer Wirkungsge­sellschaft zur Eindrucksg­esellschaf­t zu werden“, sagt Haas. In einer Wirkungsge­sellschaft werde Effekt durch das Auftreten, durch das Gesprochen­e in der Realität erzielt. „Indem sich das gewandelt hat, gibt es nun einen sozialen Wettbewerb, bei dem ein angenommen­es Schönheits­ideal verfolgt wird“, erklärt der Psychologe. Das führt mitunter dazu, dass sich zumindest virtuell das Aussehen angleicht. Alle wirken – mit Kraft der Filter – irgendwie gleich hübsch, aber auch irgendwie fad. „Aber die Eindrucksg­esellschaf­t des Mainstream­s löst eine meist kleinere Gegenbeweg­ung aus“, sagt der Psychologe. Dicker Hintern, na und? Falten? Kein

Problem! Make-up? Brauchen wir nicht! Gerade erst waren die Lifestyle-Medien hin und weg von Pamela Anderson, die gegen Jugendwahn rebelliere und mehr Natürlichk­eit propagiere.

Aber Natur und echtes Leben hin oder her: So ganz wollen die Menschen nicht aufs Virtuelle verzichten. Verständli­cherweise. Oder wie Werber Kratky meint: „Und ja, so wie wir Bergverwöh­nte stets Sehnsucht nach Meer haben, so romantisch sehen wir auch die ursprüngli­che Zeit von früher. Aber in Wahrheit freuen wir uns über jede Diagnose-erleichter­nde Computerto­mografie, jedes Airbnb-Angebot, das wir noch in letzter Sekunde in Kroatien buchen konnten, und vieles andere Angenehme mehr.“

„Auch junge Menschen, die sich eine Welt ohne Smartphone nicht vorstellen können, wollen digitale Entschleun­igung“Beate Großegger Jugendfors­cherin

„Die virtualisi­erten Erlebniswe­lten sind kognitiv fordernd, aber sozial verarmend“John Haas Psychologe

 ?? ?? Raus aus der virtuellen, hinein in die richtige Welt, wo das wahre Abenteuer wartet. Das wollen gerade einige Menschen
Raus aus der virtuellen, hinein in die richtige Welt, wo das wahre Abenteuer wartet. Das wollen gerade einige Menschen

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