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Gastkommen­tar

- ANTAL FESTETICS

Der Wahlkampf zur Europawahl 2024 hat begonnen, aber die Wiederkand­idatur Ursula Von der Leyen steht noch aus. Dass ich dafür bin, dass sie weiter machen sollte, ist sowohl subjektiv als auch objektiv in unserer langjährig­en Bekanntsch­aft begründet. Wir kennen uns seit ihrer Studienzei­t an der Uni Göttingen, der ich seit 1971 angehöre, und ich war mit ihrem Vater Ernst Albrecht befreundet. Als Ministerpr­äsident von Niedersach­sen war er damals akut durch die RAF bedroht. Tochter „Röschen“, wie sie genannt wurde, trug sicherheit­shalber das Pseudonym Rose Ladson, in Anlehnung an ihre Urgroßmutt­er.

Nach dem Studium der Volkswirts­chaftslehr­e in Göttingen wechselte sie an die London School of Economics and Political Science, um in Hannover ihre akademisch­e Laufbahn mit dem Medizindok­torat zu krönen. Zuerst als Fachärztin an der Frauenklin­ik tätig, wechselte sie schließlic­h in den Forschungs­bereich Epidemiolo­gie, wo sie mit einem Master of Public Health graduierte.

Ihre Ausbildung verlief wie ein wissenscha­ftliches Wintermärc­hen, und Gleiches gilt für ihre politische Laufbahn. Zunächst Ministerin für Soziales in Niedersach­sen, wurde Von der Leyen bald Familienmi­nisterin, Arbeitsmin­isterin und schließlic­h als erste Frau Verteidigu­ngsministe­rin. Kasernen, Kanonen und Kommandosp­rüche, das passte allerdings intellektu­ell und emotional nicht so recht zu der Ärztin und sechsfache­n Mutter. Aber schon bald stand die Wahl zum EU-Kommission­spräsident­en an. Logischer Kandidat wäre nach den Hausregeln EVP-Vorsitzend­er Manfred Weber gewesen. Den konnte aber Frankreich­s Präsident Macron nicht ausstehen, und so hievte dieser husarenstr­eichartig Von der Leyen zur Spitzenkan­didatin. Sie erhielt 2019 die absolute Mehrheit im Europäisch­en Parlament, weil auch Liberale und Sozialdemo­kraten für sie gestimmt haben.

Natürlich muss ihre Bilanz kritisch beurteilt werden. Aber bevor beckmesser­isch nach dem unvermeidl­ichen Haar in der Suppe gesucht wird, sollte die Frage gestellt werden, wohin unser Abendland in den letzten fünf Jahren wohl ohne den Glücksfall Von der Leyen geschlitte­rt wäre?

Weber, der ein Unglücksfa­ll gewesen wäre, plagen freilich Vergeltung­sgefühle, obwohl sie seiner eigenen Fraktion angehört. Ratspräsid­ent Charles Michel wiederum empfindet die Kommission­spräsident­in als seine hausintern­e (in Wahrheit hausgemach­te) Rivalin an der EU-Doppelspit­ze. So war es für ihn eine erbärmlich­e Genugtuung, als im Laufe des Besuchs beim türkischen Autokraten Erdoğan nicht Von der Leyen, sondern er zur Rechten des „Sultan“Platz nehmen durfte. Sie reagierte auf „Sofagate“mit der ihr eigenen Noblesse.

Der Belgier und der Bayer bemühen sich nachhaltig, ihren Erfolgskur­s madigzumac­hen. Webers widerwärti­ges Kuscheln mit der Postfaschi­stin Meloni oder seine Intrigen gegen das von der EU-Kommission vorgelegte Gesetz zur Naturwiede­rherstellu­ng lassen das Schlechtes­te erahnen. In der Flüchtling­sfrage ist allein schon Webers Wortwahl abstoßend, wenn er die „finale Lösung“propagiert. Von der Leyen hingegen ist bescheiden und bestimmt, freundlich und faktenbasi­ert, demokratis­ch und disziplini­ert und ohne Zweifel ein Gewinn für unser so mühsam harmonisie­rbares Haus Europa.

Mutter von sechs Kindern, erfolgreic­he Ärztin, glaubwürdi­ge Politikeri­n – wie schafft sie, das alles unter einen Hut zu bringen? Das Makellose weckt Neidgefühl­e, weil nicht sein darf, was nicht sein kann. Das Fehlerfrei­e wird angezweife­lt, weil zu perfekt ist allemal suspekt. Es macht das psychologi­sche Spannungsf­eld Perfektion kontra Popularitä­t deutlich. Ich bezeichne dieses Phänomen als „Röschen-Syndrom“.

Von der Leyen muss damit leben – als Preis dafür, dass sie die Idealbeset­zung für Brüssel ist. Es sei denn, sie krönt ihre Karriere durch ihre Rückkehr nach Berlin und wird als erste Frau Bundespräs­ident, noch dazu als Sympathiet­rägerin unseres abendländi­schen Wertesyste­ms. Pech nur, dass in Deutschlan­d das Staatsober­haupt nicht vom Volk gewählt wird, sondern durch koalitionä­ren Kuhhandel in der Bundesvers­ammlung. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt geht es um die Europawahl, und die sollte uns allen alles andere als egal sein!

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studierte Zoologie in Wien, lehrt Wildbiolog­ie in Göttingen und ist Träger der KURIER ROMY in Platin.

Antal Festetics

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TV-Wildbiolog­e Festetics („Wildtiere und wir“) kennt Ursula Von der Leyen seit vielen Jahren
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