Das Mädchen von Portbou
Ungelöst. Es dauerte 32 Jahre, bis eine unbekannte Tote endlich identifiziert werden konnte. Doch was geschah in den 23 Stunden vor ihrem Tod?
Es ist der frühe Morgen des 4. September 1990. Es wird ein sonniger Tag hier im katalanisch-französischen Grenzgebiet. Wellen plätschern an die kleine Bucht von Portbou. An ihrem südlichen Ende erhebt sich ein kleiner Hügel, auf den eine schmale Straße führt. Sie endet vor dem Friedhofstor. Zwischen dem Friedhof und den mehrstöckigen Wohnhäusern liegt ein steiler Hang voller Kakteen und ein paar Pinien. Und an einer dieser Pinien hängt an einem dünnen Strick der leblose Körper einer jungen Frau. Sie ist weithin sichtbar.
Ein letzter Abschied
Am 3. September gegen 9 Uhr, nur 23 Stunden zuvor, verabschiedet sich in Florenz die Studentin Christina Rauter von ihrer 19-jährigen Schwester Evi. Die ist gerade aus dem heimatlichen Lana in Südtirol für ein paar Tage zu Besuch. Evi, die vor dem Sommer maturiert hat und in wenigen Tagen in Bozen ihren ersten Job antritt, hat noch keine genauen Pläne für den Tag. Als Christina gegen 13 Uhr in die Wohnung zurückkommt, findet sie dort ein Post-it: „Hatte Lust nach Siena zu fahren. Komme also erst später!“Darunter ein lustiges Mondgesicht. Kein Grund zur Sorge, Siena ist nur etwa eine Stunde entfernt und Evi gilt bei ihrer Familie als sehr vernünftig und selbstständig. Aber am Abend ist sie nicht zurück. Am nächsten Morgen auch nicht. Ihre Familie wird sie nie wiedersehen.
In Portbou macht sich die alarmierte Polizei ein Bild von der Lage. Und kommt schnell zu einem Schluss: Suizid. Dabei beschreiben Augenzeugen die Szene als „ungewöhnlich“, ja makaber: Die junge Frau hängt in 2,65 Meter Höhe an einem Ast, ihr Körper ist dem Baumstamm zugewandt. Der Knoten des kurzen Seils ist genau unter ihrem Kinn, die Polizei beschreibt ihn als Seemannsknoten. Außer ihrer Kleidung hat sie nichts bei sich. Sie ist barfuß, ihre Schuhe stehen ein Stück weit entfernt. Aufstiegshilfen gibt es auf dem steilen Hang keine.
Der zuständige Gerichtsmediziner kommt nicht zum Fundort, als ihm ein erhängtes Mädchen gemeldet wird. Er führt eine eher oberflächliche Obduktion durch. Es gibt keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, keine Kratzer am Körper, die Fußsohlen sind völlig sauber. Ringsum stehen Kakteen mit langen Stacheln, und auch das eigenständige Klettern auf den Baum hätte Spuren am Körper hinterlassen müssen. Aber da ist nichts. Der Tod ist durch Erhängen eingetreten, und auch der Gerichtsmediziner zweifelt nicht am Suizid des Mädchens.
Nächtliche Zeugen
Nur 40 Meter von der hohen Pinie und dem toten Mädchen entfernt, in Sicht- und Hörweite, sieht die Polizei am Morgen des 4. September ein Zelt. Darin schlafend: eine Gruppe junger Österreicher, fünf Männer, eine Frau. Alle aus Wien und zwischen 18 und 24 Jahren alt. Befragt werden sie kaum, die Sprachbarriere ist groß. Sie geben an, dass sie gegen 3 Uhr morgens angekommen und dann bald schlafen gegangen seien, nichts gehört und nichts gesehen hätten. Man lässt sie ziehen. Dabei versucht noch am selben Morgen eine Anrainerin eine Aussage zu machen: Sie sei in der Nacht durch lautes Schreien, Streit und das Weinen eines Mädchens aufgewacht, habe sich aber nicht getraut, nachzusehen. Doch die Polizei nimmt ihre Aussage nicht auf.
In Florenz gibt Schwester Christina eine Vermisstenanzeige auf. Sie ist fast wortgleich mit der Anzeige einer unbekannten Toten, die von der Guardia Civil im 1.000 Kilometer entfernten Portbou verfasst wird: Eine junge Frau, die Latzhose und ein türkises Shirt trägt, am Handgelenk eine Casio-Armbanduhr. Beide Meldungen gehen an Interpol, doch zu einem Treffer kommt es nicht. Die internationale Zusammenarbeit versagt in diesem Fall komplett und folgenschwer. 32 Jahre lang muss die Familie Rauter mit der Ungewissheit leben, was ihrer Evi geschehen ist. 32 Jahre lang bleibt die Unbekannte in Portbou namenlos.
Im Jahr 2022 widmet sich die katalanische True-Crimefremdes
Sendung „Crims“dem Fall und holt dazu – auch wegen des Aspekts der jungen Camper – österreichische Unterstützung ins Boot: Ben Morak und seine Sendung ATV Ungelöst. Hier wird der Fall im April 2022 ausgestrahlt. Und es geschieht, womit niemand mehr gerechnet hatte: Eine Südtirolerin, die gerade in Österreich Urlaub macht, erkennt das Mädchen von Suchplakaten und Medienberichten aus den frühen 1990er-Jahren wieder. Es ist Evi Rauter.
Der „unmögliche“Suizid
Auch der Gerichtsmediziner sorgt für eine Wende, als er bei „Crims“-Dreharbeiten zum ersten Mal die Fotos der Fundsituation sieht. Auch das ist, wie so vieles in diesem Fall, auf pure Nachlässigkeit der Ermittlungsbehörden zurückzuführen. Er ist schockiert. Denn für ihn ist jetzt klar: Ein Suizid ist völlig ausgeschlossen. Um sich so zu erhängen, müsse man schweben können, sagt er.
Für die Beamten der Guardia Civil bleibt der Fall ein Suizid. Etwas, das die Familie ausschließt. Die Familienbande waren eng, Evi hätte über ihre Probleme gesprochen und wirkte völlig zufrieden. Es gab auch keinen Bezug zu Portbou oder Spanien. Zeitlich wäre es sich theoretisch ausgegangen. Damals gab es einen Zug aus Rom, der täglich um 13.15 Uhr in Florenz hielt und dann am nächsten Morgen um 5.45 Uhr in Portbou angekommen wäre. Gegen 7.30 Uhr wurde Evi bereits erhängt aufgefunden – sie hätte sich also im Dunkeln sehr zielstrebig ihren Weg durch den ihr unbekannten Ort zu der von Kakteen umgebenen Pinie bahnen müssen.
Doch auch bei der Mordtheorie bleiben viele Fragen offen. Wurde Evi Rauter entführt? Ist sie freiwillig in ein
Auto gestiegen? Wie kamen der oder die Täter mit ihr über zwei Landesgrenzen? Und warum präsentierten sie das tote junge Mädchen auf diese Art, völlig exponiert und von weithin sichtbar? Und so ist nur eines mit Sicherheit zu sagen: Evi Rauter verschwand am 3. September 1990 zwischen 9 und 13 Uhr in Florenz und wurde am 4. September gegen 7.30 Uhr in Portbou erhängt aufgefunden. Was in den 23 Stunden dazwischen geschah, bleibt im Dunkeln. Ein Fragezeichen, mit dem die Familie Rauter fürs Erste weiterleben muss.
Status quo
Und auch heute noch kämpfen sie um ihre Evi. Denn die liegt – aufgrund einer weiteren Fehlentscheidung der spanischen Behörden – seit 2001 in einem Massengrab auf dem Friedhof im katalanischen Figueres. Bemühungen, sie nach Hause zu holen, wurden von spanischer Seite bisher kaum unterstützt.
Man ermittelt dort auch nicht mehr – erstens gilt der Fall nach wie vor als Suizid, und zweitens verjährt Mord in Spanien nach 20 Jahren. In Italien aber verjährt Mord nicht. Die Staatsanwaltschaft in Florenz wird aktiv und ermittelt 17 Monate lang intensiv. Zwar hält man ein Verbrechen für wahrscheinlich, hat aber nicht genügend Hinweise für weitere Ermittlungen. Deshalb eröffnet sie ein Strafverfahren gegen Unbekannt, so kann weiter ermittelt werden, wenn es neue Hinweise gibt.
32 Jahre nach Evis Verschwinden in Florenz findet fast auf den Tag genau in Lana die Trauerfeier für sie statt. Auf der Traueranzeige, die ihre Familie verfasst hat, steht: „Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich dich sehen kann, wann immer ich will.“