Warum Selenskij über eine Niederlage spricht
Bisher war immer von Sieg die Rede
„Wenn der Kongress der Ukraine nicht hilft, wird die Ukraine den Krieg verlieren.“So deutlich war Wolodimir Selenskij noch nie: Wenn die USA ihr 60-Milliarden-Hilfspaket nicht schnell freigeben, dann drohe der Ukraine die Niederlage, so der ukrainische Präsident.
Das ist eine bemerkenswerte Änderung in Kiews Rhetorik. Bisher hat Selenskij es konsequent vermieden, das Wort Niederlage auch nur zu erwähnen.
Im dritten Kriegsjahr hat sich das aber geändert: Die Russen machen massiv Druck, und an der Front fehlen Soldaten. Die wollen auch deshalb nicht in den Krieg ziehen, weil der Einsatz als OneWay-Ticket gilt; daran wiederum ist die fehlende Munition schuld.
Man hat jedenfalls keine Zeit, bis Sommer zu warten. Das ist der Grund, warum Selenskij die rhetorische Büchse der Pandora öffnet: Brauchen die USA so lange für ihre Entscheidung, könnten die ukrainischen Stellungen bereits eingebrochen sein – und Putins Soldaten mit großen Schritten Richtung Westukraine vorrücken. Das weiß man in Kiew genauso wie in Washington: In Politico sprach ein hochrangiger ukrainischer General kürzlich sogar davon, dass es „nichts gibt, was der Ukraine jetzt helfen könnte“.
Gemeint ist damit vor allem, dass die Russen zuletzt in großem Stil sogenannte Gleitbomben einsetzen, mit denen sie viel größere Schäden als mit Kamikaze-Drohnen anrichten. Die sind billig und einfach zu produzieren; teils jahrzehntealte Sowjet-Gleitbomben, die früher nur Kampfjets abwerfen konnten, werden einfach mit ausklappbaren Flügeln und simplen Navigationssystemen ausgestattet.
„Dumme Bomben“
Die einst „dummen Bomben“werden so zu Präzisionswaffen mit enormer Sprengkraft. Die Russen schießen damit ukrainische Stellungen sturmreif, um weitere Bodenoffensiven vorzubereiten. Sie werden weit hinter der Frontlinie abgeschossen, für flächendeckenden Schutz fehlen der Ukraine Kampfjets und PatriotLuftabwehrsysteme.
In Kiew macht sich daher Verzweiflung breit. „Wir haben praktisch keine Gegenmaßnahmen“, stellte der Thinktank Deep State jetzt fest.
Je lauter diese Stimmen werden, desto angreifbarer wirkt eine Staatsführung, die unverdrossen von Sieg und Rückeroberung spricht. Denn auch innerhalb der Bevölkerung ändert sich die Stimmung: Vor allem in den Regionen nahe der Front wollen immer weniger bis zum bitteren Ende kämpfen. Immer mehr wünschen sich eine langsame diplomatische Annäherung und sind sogar für territoriale Zugeständnisse bereit.