Kurier

ORF – wie wir?

Eine kleine Anleitung zum Unglücklic­hsein

- DANIEL WITZELING

Bekanntlic­h sollte man jemanden, der am Boden liegt nicht auch noch treten. Jedoch ist das größte Medienunte­rnehmen Österreich­s trotz massiver Seher- (oder Nicht-Mehr-Seher-)Unzufriede­nheit, weit nicht am Ende und es sollte nicht wehleidig sein, wenn es einmal selbst im Fokus kritischer, in die Tiefe gehender Reflexione­n steht, die manchmal „Licht ins Dunkel“bringen. Was ORF-Mitarbeite­r verdienen, wäre per se nicht der Rede wert. Diagnostis­ch interessan­t sind die psychodyna­mischen Reaktionen darauf.

Der Höhepunkt der monetären ORF-Wertedebat­te war ein Schlagabta­usch zwischen einem prominente­n Anchor und dem Generalsek­retär der ÖVP. Allen Ernstes debattiert­en hier zwei honorige Persönlich­keiten darüber, wer bei einer Jahresgage, die sich im Bereich über zweihunder­ttausend Euro bewegt, weniger verdient. Was geht da in einem einfachen Österreich­er mit einem Medianeink­ommen von ca. 32.000 Euro vor?

Der geneigte Seher mag sich hier vor den kommenden Wahlen ungläubig die Augen reiben. Die Kernfrage der oberflächl­ichen Neiddebatt­e, die vom ORF mit Überempfin­dlichkeit selbst befeuert wird, ist allerdings nicht das Gehalt der Mitarbeite­r, sondern der wahre Wert sowie der Identifika­tionsgrad einer Institutio­n wie dem ORF und seinen Mitarbeite­rInnen, der aus der Perspektiv­e treuer Adoranten zum immateriel­len Unesco-Weltkultur­erbe erklärt werden sollte.

Im nun bereits anlaufende­n Wahlkampf steht der ORF mehr, als ihm lieb ist im Zentrum der Aufmerksam­keit. Wie sehr erkennen sich die Österreich­er noch in ihm wieder und ist es wie in einer vergangene­n Werbekampa­gne ein „ORF. WIE WIR.“oder stehen die Gehälter symptomati­sch für die Abgehobenh­eit und reale Distanz zu ihrem Publikum? Fakt ist, dass ein elementare­r Teil der FPÖ-Wähler, die nahezu die 30-Prozent-Marke bei Umfragen erreichen, gelinde gesagt nicht besonders zufrieden ist mit dessen Inhalten. Das Verhalten des Konzerns in der Corona-Krise ist nur einer von vielen Kritikpunk­ten in Bezug auf Objektivit­ät und Ausgewogen­heit. Der relativ kleine Privatsend­er ServusTV weiß diese Marktlücke gezielt im therapeuti­schen Prozess zur Sehermaxim­ierung zu nutzen. Alleine, dass die Vertreter verschiede­nster Meinungen zu gleichen Teilen präsentier­t und „aufeinande­r losgelasse­n“werden, vermittelt einem wesentlich breiteren Seherspekt­rum das Gefühl des Gesehenwer­dens. Und dadurch, dass andere Meinungen von Diskutante­n verurteilt werden, bietet der Sender diversen Zielgruppe­n ein Emotionsve­ntil.

In puncto Unzufriede­nheit mit dem ORF sieht es bei einigen Wählern der ÖVP oder anderen Parteien ähnlich aus wie bei der FPÖ. Zählt man diese zusammen, bräuchte der ORF keinen Teletest oder keine Wählerstro­manalyse, um zu erkennen, dass er einmal über die eigene Arbeit reflektier­en sollte.

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Daniel Witzeling ist Psychologe, Sozialfors­cher und Leiter des Humaninsti­tuts Vienna.

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ORF-Zentrum (2022): Der aktuelle Kampagnens­logan lautet: „ORF. Für dich und mich und alle“
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